Der Anschlag - King, S: Anschlag
er stand ganz in der Nähe. Zu Fuß erreichbar.
»Derry, Dallas.«
Beide Namen bestanden aus zwei Silben, die sich an dem Doppelkonsonanten auseinanderbrechen ließen, wie man Feuerholz übers Knie brach. Hier konnte ich nicht bleiben. Weitere dreißig Monate in Big D würden mich überschnappen lassen. Wie lange würde es dauern, bis ich die ersten Graffiti wie ICH WERDE MEINE MUTTER BALD UMBRINGEN zu sehen bekam? Oder einen Voodoo-Jesus, der den Trinity River hinabtrieb? Fort Worth wäre vielleicht besser, aber auch Fort Worth war noch zu nahe.
Wieso musste ich überhaupt in einer der beiden Städte bleiben?
Dieser Gedanke kam mir kurz nach drei Uhr morgens mit der Wucht einer Erleuchtung. Ich hatte ein gutes Auto – einen Wagen, in den ich mich ehrlich gesagt verliebt hatte –, und in Mitteltexas gab es keinen Mangel an Schnellstraßen, von denen viele erst in letzter Zeit gebaut worden waren. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts würden sie durch eine Vielzahl von Überführungen und zusätzlichen Fahrspuren verwirrend kompliziert werden, aber im Jahr 1960 waren sie fast unheimlich leer und warteten auf Verkehr, der noch nicht existierte. Es gab Geschwindigkeitsbegrenzungen, die aber nicht durchgesetzt wurden. In Texas war sogar die Verkehrspolizei überzeugte Anhängerin des Evangeliums »Gaspedal durchtreten und die Karre röhren lassen«.
Ich konnte unter dem erdrückenden Schatten hervorkommen, den ich auf dieser Stadt lasten fühlte. Ich konnte einen Wohnort finden, der kleiner und weniger beängstigend war – einen anderen Ort, der sich nicht so nach Hass und Gewalt anfühlte. Am helllichten Tag konnte ich mir einreden, dass dies alles nur meiner Fantasie entsprang, aber im ersten Morgengrauen funktionierte das nicht. In Dallas gab es zweifellos gute Menschen, Tausende und Abertausende davon, aber diese unterschwellige Gewaltbereitschaft war da, und manchmal brach sie aus. Wie auf dem Gehsteig vor dem Desert Rose.
In Derry sind die schlimmen Zeiten vorbei, hatte Bevvie-from-the-levee gesagt. Bei Derry war ich da nicht so überzeugt, und bei Dallas hatte ich das gleiche Gefühl, auch wenn der schlimmste Tag dort noch über drei Jahre entfernt lag.
»Ich werde pendeln«, sagte ich. »George möchte hübsch und ruhig wohnen, um an seinem Buch zu arbeiten, aber weil es von einer Großstadt handelt – von einer, in der es spukt –, muss er eben pendeln, oder? Um Material zu sammeln.«
Kein Wunder, dass ich fast zwei Monate gebraucht hatte, um darauf zu kommen; die einfachsten Antworten des Lebens waren oft am leichtesten zu übersehen. Ich ging wieder ins Bett und schlief fast augenblicklich ein.
14
Am folgenden Tag fuhr ich von Dallas aus auf dem Highway 77 nach Süden. Nach eineinhalb Stunden war ich in der Denholm County. Auf die State Road 109 nach Westen bog ich hauptsächlich deshalb ab, weil mir die Werbetafel an der Kreuzung gefiel. Sie zeigte einen heroischen jungen Footballspieler, der einen goldenen Helm, ein schwarzes Trikot und goldene Leggings trug. DENHOLM LIONS , verkündete die Werbetafel. 3-MALIGE BEZIRKSSIEGER! 1960 AUF DEM WEG ZUR LANDESMEISTERSCHAFT! »WIR HABEN JIM-POWER!«
Was immer das war, dachte ich. Natürlich hatte jede Highschool ihre geheimen Signale und Zeichen; die sollen dafür sorgen, dass die Kids sich als Insider fühlen.
Nach fünf Meilen auf der 109 erreichte ich die Kleinstadt Jodie. 1280 EINW. , stand auf der Tafel am Ortseingang. WILLKOMMEN, FREMDER! Auf halber Strecke der von Bäumen gesäumten Main Street sah ich ein kleines Restaurant mit einem Schild im Fenster: BESTE SHAKES, FRITTEN UND BURGER IN GANZ TEXAS! Es hieß Al’s Diner.
Natürlich hieß es so.
Ich parkte auf einem der schräg angeordneten Stellplätze vor dem Lokal, ging hinein und bestellte das Pronghorn Special, das sich als doppelter Cheeseburger mit Barbecuesauce erwies. Dazu gab es Mesquite-Fritten und einen Rodeo Thickshake nach Wahl, mit Vanille-, Schoko- oder Erdbeergeschmack. Ein Pronghorn war nicht ganz so gut wie ein Fatburger, aber er war nicht schlecht, und die Fritten waren so, wie ich sie am liebsten mochte: knackig, salzig und fast etwas zu lange in der Fritteuse.
Al entpuppte sich als Al Stevens, ein hagerer Kerl mittleren Alters, der keinerlei Ähnlichkeit mit Al Templeton hatte. Er trug eine Rockabilly-Frisur und einen grau melierten Bandido-Schnurrbart, sprach wie viele Texaner auffällig gedehnt und hatte ein schräg aufgesetztes, lustiges Papierhütchen auf dem
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