Der Anschlag - King, S: Anschlag
zahlte mir die zwölfhundert aus. Ich stopfte sie in die Tasche und hastete zurück zu meinem Wagen. Erst als ich wieder auf dem Highway 77 war und Dallas mit jeder Umdrehung der Räder weiter zurückblieb, während Jodie in gleichem Maß näher rückte, löste sich meine Anspannung.
Schön dämlich.
19
Wir werden bald einen weiteren Zeitsprung vorwärts machen (auch Erzählungen enthalten Kaninchenbaue, wenn man sich’s recht überlegt), aber zuvor muss ich noch eine Szene aus dem Jahr 1960 schildern.
Fort Worth, 16. November 1960. Kennedy war vor etwas über einer Woche gewählt, aber noch nicht in sein Amt als Präsident eingeführt worden. Ecke Ballinger und West Seventh Street. Der Tag war bedeckt und kalt. Aus den Autoauspuffen kamen weiße Qualmwolken. Der Wetterfrosch von KLIF (»Tag und Nacht alle Hits«) sagte Regen voraus, der bis Mitternacht zu Schneeregen werden könne. Seid also vorsichtig auf den Highways, all ihr Rocker und Roller.
Ich war in eine Rancherjacke mit Lammfellfutter gehüllt und hatte meine Mütze mit Ohrenklappen tief in die Stirn gezogen. Ich saß auf einer Bank vor dem Gebäude des texanischen Viehzüchterverbands und sah die West Seventh Street entlang. Ich war seit fast einer Stunde hier und glaubte nicht, dass der junge Mann seine Mutter noch viel länger besuchen würde; nach Al Templetons Aufzeichnungen hatten sich ihre drei Söhne so früh wie nur möglich von ihr abgesetzt. Ich hoffte allerdings, dass sie mit ihm aus ihrem Mietshaus kommen würde. Nach mehreren Monaten in Waco, wo sie als Krankenpflegerin gearbeitet hatte, war sie erst seit Kurzem wieder hier.
Meine Geduld wurde belohnt. Die Eingangstür der Rotary Apartments ging auf, und ein hagerer Mann, der Lee Harvey Oswald fast unheimlich ähnlich sah, trat ins Freie. Er hielt die Tür für eine Frau auf, die einen Mantel mit Schottenkaros und klobige, weiße Schwesternschuhe trug. Sie reichte ihrem Sohn nur bis zur Schulter, war aber stämmig gebaut. Ihre grauen Haare waren aus einem vorzeitig faltigen Gesicht zurückgekämmt. Sie trug ein rotes Halstuch. Dazu passender Lippenstift betonte einen kleinen Mund, der unzufrieden und streitsüchtig wirkte – der Mund einer Frau, die der Überzeugung war, dass die Welt gegen sie war, und im Lauf der Jahre massenhaft Beweise dafür gesammelt hatte. Lee Oswalds älterer Bruder ging rasch den betonierten Fußweg entlang. Die Frau hastete hinter ihm her und packte ihn hinten am Mantel. Er drehte sich auf dem Gehsteig nach ihr um. Sie schienen zu streiten, aber die Frau redete viel mehr. Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. Weswegen sie ihn ausschimpfte, konnte ich unmöglich mitbekommen; ich war vorsichtigerweise eineinhalb Blocks weit entfernt. Dann machte er sich wie erwartet auf den Weg zur Ecke West Seventh Street und Summit Avenue. Er war mit dem Bus gekommen, und dort lag die nächste Haltstelle.
Die Frau blieb einen Augenblick lang sichtlich unschlüssig stehen. Komm schon, Mama, dachte ich. Du willst ihn doch nicht so leicht davonkommen lassen, oder? Er ist erst einen halben Block die Straße hinunter entfernt. Lee musste bis nach Russland flüchten, um diesem drohenden Zeigefinger zu entgehen.
Sie nahm die Verfolgung auf, und als sie sich der Ecke näherte, hob sie die Stimme, und ich konnte sie deutlich verstehen. » Halt, Robert, geh nicht so schnell, ich bin noch nicht mit dir fertig!«
Er sah sich nach ihr um, ging aber weiter. Sie holte ihn an der Haltestelle ein und zupfte ihn am Ärmel, bis er sie ansah. Der Finger bewegte sich wieder wie ein umgekehrtes Pendel. Ich bekam nur Satzfetzen mit: du hast es versprochen und ich habe alles für euch geopfert und auch – glaube ich – was bildest du dir ein, über mich zu urteilen. Ich konnte Oswalds Gesicht nicht sehen, weil er mir den Rücken zukehrte, aber seine hängenden Schultern sagten genug. Ich bezweifelte, dass dies das erste Mal war, dass Mama ihn auf der Straße verfolgte und die ganze Zeit mit Vorwürfen überhäufte, ohne sich um etwaige Augenzeugen zu kümmern. Jetzt legte sie eine Hand mit gespreizten Fingern auf ihren üppigen Busen – in jener zeitlosen Muttergeste, die Sieh mich gefälligst an, du undankbares Kind besagte.
Oswald griff in die Gesäßtasche, zog seine Geldbörse heraus und gab ihr einen Geldschein. Sie stopfte ihn in ihre Handtasche, ohne ihn anzusehen, und machte sich wieder auf den Weg zu den Rotary Apartments. Dann fiel ihr offenbar etwas ein, denn sie machte noch einmal
Weitere Kostenlose Bücher