Der Anschlag - King, S: Anschlag
wehenden Vorhänge, der große, glatte Flusskiesel als Briefbeschwerer, »This Time« aus dem Radio, dazu jenes Licht einer langen texanischen Abenddämmerung, das ich so lieben gelernt hatte. Daran sollte ich mich auch erinnern. Schließlich war es der Abend, an dem ich aufhörte, in der Vergangenheit zu leben, und einfach zu leben begann.
Ich öffnete die Haustür. Draußen stand Michael Coslaw. Er weinte. »Ich kann nicht, Mr. Amberson«, sagte er. »Ich kann einfach nicht.«
»Na, dann komm rein, Mike«, sagte ich. »Lass uns darüber reden.«
2
Ich war nicht überrascht, ihn zu sehen. Bevor ich in die Ära des allgemeinen Rauchens entwichen war, hatte ich fünf Jahre lang die Schulaufführungen der Lisbon High betreut und in dieser Zeit zahlreiche Fälle von Lampenfieber erlebt. Mit Schauspielern im Teenageralter zu arbeiten war, wie mit Nitroglyzerinbehältern zu jonglieren: aufregend und gefährlich. Ich habe Mädchen erlebt, die rasch lernten und bei Proben wunderbar natürlich wirkten, auf der Bühne dann aber völlig erstarrten; ich habe kleine Streber gesehen, die aufblühten und einen Kopf größer zu werden schienen, sobald sie einen Satz zu sagen hatten, der das Publikum lachen ließ. Ich habe engagierte Arbeitstiere erlebt und gelegentlich einen jungen Menschen, der einen Funken Talent be wies. Aber ich hatte noch nie mit einem Jungen wie Mike Coslaw gearbeitet. Ich vermute, dass es Highschool-Lehrer und College-Dozenten gibt, die ihr Leben lang Theatergruppen betreuen und noch nie einen Jungen wie ihn erlebt haben.
Mimi Corcoran, die eigentliche Direktorin der Den holm Consolidated High School, hatte mich dazu überredet, die Theateraufführung der Oberstufe zu betreuen, als der seit vielen Jahren dafür zuständige Mathelehrer Alfie Norton an Knochenmarksleukämie erkrankte und nach Houston zog, um sich dort behandeln zu lassen. Ich versuchte, mich mit der Begründung zu weigern, ich müsse noch in Dallas recherchieren, aber im Winter und zu Beginn des Frühjahrs 1961 fuhr ich nicht sehr oft dorthin. Das wusste auch Mimi, weil ich fast immer zur Verfügung stand, wenn Deke in dieser ersten Hälfte des Schuljahrs eine Aushilfe brauchte. Was Dallas anging, trat ich im Grunde genommen auf der Stelle. Lee war noch in Minsk und würde bald Marina Prusakowa heiraten, das Mädchen in dem roten Kleid und den weißen Schuhen.
»Sie haben reichlich freie Zeit«, sagte Mimi. Dazu stemmte sie die Fäuste in ihre nicht existierenden Hüften; an diesem Tag war sie in vollem Gefangene-werden-keine-gemacht-Modus. »Außerdem gibt es ein Honorar.«
»O ja«, sagte ich. »Ich habe mich bei Deke erkundigt. Fünfzig Dollar. Davon kann ich echt mächtig einen draufmachen.«
»Sie können was? «
»Egal, Mimi. Im Augenblick komme ich finanziell ganz gut zurecht. Können wir es nicht dabei belassen?«
Nein, das konnten wir nicht. Miz Mimi war eine menschliche Planierraupe, und wenn sie auf ein scheinbar unbewegliches Objekt stieß, senkte sie nur ihre Schaufel und gab Vollgas. Ohne mich, sagte sie, werde es erstmals seit Bestehen der Schule keine Theateraufführung der Oberstufe geben. Die Eltern wären enttäuscht. Die Schulbehörde wäre enttäuscht. »Und«, fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen hinzu, » mir würde etwas fehlen. «
»Gott bewahre, dass Ihnen etwas fehlt, Miz Mimi«, sagte ich. »Also gut. Wenn Sie mich das Stück aussuchen lassen – etwas nicht allzu Kontroverses, versprochen –, mache ich’s.«
Ihr Stirnrunzeln verschwand in dem strahlenden Mimi-Corcoran-Lächeln, das Deke Simmons immer in eine Schale mit köchelndem Haferbrei verwandelte (was temperamentmäßig keine allzu große Veränderung war). »Ausgezeichnet! Und wer weiß, vielleicht entdecken Sie einen brillanten Schauspieler, der sich in unseren Hallen herumtreibt.«
»Ja«, sagte ich. »Und Schweine können vielleicht pfeifen.«
Aber – das Leben war solch ein Witz – ich hatte einen brillanten Schauspieler gefunden. Ein Naturtalent. Und jetzt saß er am Abend vor der Premiere in meinem Wohnzimmer, füllte fast das ganze Sofa aus (das sich unter seinen hundertzwanzig Kilo demütig beugte) und flennte sich die Augen aus dem Kopf. Mike Coslaw. Auch bekannt als Lennie Small in George Ambersons Gut-genug-für-eine-Highschool-Adaption von John Steinbecks Von Mäusen und Menschen .
Aber nur, wenn ich ihn dazu überreden konnte, morgen aufzutreten.
3
Ich überlegte, ob ich ihm ein paar Kleenex geben sollte, sah jedoch
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