Der Anschlag - King, S: Anschlag
aber dies ist der zehnte Fall. Und ich rede nicht davon, dass dort irgendein Discounter einziehen will; ich rede von Bean, und was den Einzelhandel in Maine angeht, ist L . L. Bean nun mal der Platzhirsch. Am 1. Juli verschwindet der Diner wie einst Enron. Aber das ist nicht das Entscheidende. Vielleicht bin ich am 1. Juli schon nicht mehr da. Ich könnte mir eine Erkältung holen und binnen drei Tagen an einer Lungenentzündung sterben. Ich könnte einen Herz- oder Gehirnschlag erleiden. Oder ich könnte mich versehentlich mit diesen verdammten Oxycontin-Tabletten umbringen. Die Krankenpflegerin, die jeden Tag vorbeikommt, ermahnt mich immer, die Höchstdosis nicht zu überschreiten, und ich bin vorsichtig, aber ich merke, dass sie befürchtet, sie könnte mich eines Morgens tot auffinden, weil ich stoned war und den Überblick verloren habe. Außerdem behindert das Zeug die Atmung, und meine Lunge ist ohnehin nichts mehr wert. Und noch dazu habe ich ziemlich abgenommen.«
»Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Niemand mag Klugscheißer, Kumpel – das wirst du noch erfahren, wenn du mal in meinem Alter bist. Jedenfalls möchte ich, dass du außer dem Notizbuch den hier mitnimmst.« Er hielt einen Schlüssel hoch. »Der gehört zum Diner. Solltest du mich morgen anrufen und von der Pflegerin erfahren, dass ich in der Nacht gestorben bin, wirst du schnell handeln müssen. Immer unter der Voraussetzung, dass du überhaupt handeln willst, versteht sich.«
»Al, du hast nicht etwa vor …«
»Ich versuche nur, vorsichtig zu sein. Weil diese Sache wichtig ist, Jake. Aus meiner Sicht ist sie wichtiger als alles andere. Falls du jemals die Welt verändern wolltest … hier ist deine Chance. Rette Kennedy, rette seinen Bruder. Rette Martin Luther King. Verhindere die Rassenunruhen. Verhindere vielleicht sogar den Vietnamkrieg.« Er beugte sich nach vorn. »Indem du ein erbärmliches verwahrlostes Kind erledigst, Kumpel, kannst du vielleicht Millionen Menschenleben retten.«
»Das ist eine verdammt gute Verkaufsmasche, aber ich brauche den Schlüssel nicht«, sagte ich. »Wenn morgen früh die Sonne aufgeht, bist du weiter unter den Lebenden.«
»Mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundneunzig Prozent. Aber das genügt nicht. Nimm den gottverdammten Schlüssel.«
Ich nahm den gottverdammten Schlüssel und steckte ihn ein. »Ich lasse dich jetzt ein bisschen ausruhen.«
»Noch etwas, bevor du gehst. Ich muss dir von Carolyn Poulin und Andy Cullum erzählen. Setz dich wieder, Jake. Das dauert nur ein paar Minuten.«
Ich blieb stehen. »Nichts da. Du bist ganz erschöpft. Du musst schlafen.«
»Schlafen kann ich im Grab. Setz dich!«
6
Nach der Entdeckung des von ihm so genannten Kaninchenbaus, erzählte mir Al, habe er sich anfangs damit begnügt, Lebensmittel zu kaufen, gelegentlich bei einem Buchmacher in Lewiston zu wetten und mehr Cash aus den Fünfzigerjahren zu horten. An manchen Werktagen unternahm er einen Ausflug zum Sebago Lake, in dem es von Fischen wimmelte, die wohlschmeckend und gesundheitlich völlig unbedenklich waren. Die Leute machten sich zwar Sorgen wegen des Fallouts von Atombombenversuchen, aber die Angst, von Fisch eine Quecksilbervergiftung zu bekommen, lag noch in weiter Ferne. Diese Ausflüge (meistens dienstags und mittwochs, aber manchmal auch bis Freitag) nannte er seine Miniurlaube. Das Wetter war immer gut (weil es stets das gleiche Wetter war) und das Angeln immer höchst erfolgreich (wahrscheinlich fing er den einen oder anderen Fisch immer wieder).
»Ich weiß genau, wie dir bei alledem zumute ist, Jake, weil ich in den ersten Jahren fast dauernd unter Schock gestanden habe. Weißt du, was mich am meisten verblüfft hat? Bei eisigem Nordoststurm im Januar die Stufen hinunterzugehen und dort in helle Septembersonne hinauszutreten. Richtiges Hemdsärmelwetter, hab ich recht?«
Ich nickte ihm zu, er solle weitersprechen. Das bisschen Farbe auf seinen Wangen hatte sich längst verflüchtigt, und er hustete wieder beständig.
»Aber wenn man einem Mann Zeit lässt, kann er sich an alles gewöhnen, und als der Schock endlich abzuklingen begann, habe ich mir überlegt, ob ich den alten Kaninchenbau vielleicht aus einem bestimmten Grund entdeckt hatte. Dann fing ich an, an Kennedy zu denken. Aber deine Frage hat ihr hässliches Haupt erhoben: Kann man die Vergangenheit ändern? Die möglichen Folgen waren mir zumindest anfangs egal; mich hat nur interessiert, ob das
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