Der Anschlag - King, S: Anschlag
Deckenlautsprecher kündigten Ankünfte und Abfahren an. Ich faltete die Zeitung sorgfältig entlang den Linien, die das Bild einrahmten, damit ich es heraustrennen konnte, ohne es zu beschädigen. Als das geschafft war, betrachtete ich lange ihr Gesicht, bevor ich das Foto zusammengefaltet in meine Geldbörse steckte. Den Rest des Extrablatts warf ich weg. Es enthielt nichts, was ich hätte lesen wollen.
Der Bus nach Little Rock wurde um zwanzig nach elf aufgerufen, und ich gesellte mich zu den Fahrgästen, die am entsprechenden Ausgang warteten. Außer der Hornbrille unternahm ich nichts zur Tarnung, aber ich wurde sowieso nicht sonderlich beachtet. Ich war bloß ein einziges weiteres Blutkörperchen im Kreislauf Amerikas, nicht bedeutender als jedes andere.
Ich habe heute euer Leben verändert, dachte ich, während ich die hier an der Schwelle eines neuen Tages Versammelten beobachtete, aber mit dieser Vorstellung war weder Triumph noch Verwunderung verbunden; sie schien keine elektrische Ladung zu besitzen, weder positiv noch negativ.
Ich stieg in den Bus und suchte mir ziemlich weit hinten einen Platz. Vor mir saßen viele junge Männer in Uniform, vermutlich unterwegs zur Little Rock Air Force Base. Hätte ich nicht getan, was ich heute getan hatte, wären einige von ihnen in Vietnam gefallen. Andere wären als Invaliden heimgekehrt. Aber jetzt? Wer wusste das schon.
Der Bus fuhr los. Als wir Dallas verließen, wurden die Donnerschläge lauter und die Blitze greller, aber es regnete immer noch nicht. Als wir Sulphur Springs erreichten, war das dräuende Gewitter hinter uns, und die Sterne waren zu Zehntausenden herausgekommen: wie Eissplitter glänzend und doppelt so kalt. Ich beobachtete sie eine Zeit lang, dann schloss ich die Augen und hörte zu, wie die Reifen des Greyhound-Busses die Meilen der Interstate 30 fraßen.
Sadie, sangen die Reifen. Sadie, Sadie, Sadie.
Irgendwann nach zwei Uhr morgens schlief ich ein.
12
In Little Rock kaufte ich mir eine Fahrkarte für den Mittagsbus nach Pittsburgh, der nur in Indianapolis hielt. Ich frühstückte im Diner des Busbahnhofs neben einem alten Mann, der beim Essen ein Kofferradio vor sich stehen hatte. Der Diner war groß und voller glänzender Anzeigen. Die wichtigste Story war natürlich weiterhin der Attentatsversuch … und Sadie. Sadie war die große Sensation. Sie sollte ein Staatsbegräbnis mit anschließender Beisetzung auf dem Nationalfriedhof Arlington erhalten. Es gab Spekulationen, dass JFK persönlich die Trauerrede halten werde. Im Zusammenhang damit wurde gemeldet, dass die für zehn Uhr angesetzte Pressekonferenz mit George Amberson, Miss Dunhills Verlobtem, ohne Angabe von Gründen auf den späten Nachmittag verschoben worden sei. Hosty verschaffte mir so viel Zeit zur Flucht wie nur möglich. Gut für mich. Für ihn natürlich auch. Und für seinen kostbaren Direktor.
»Der Präsident und seine heldenhaften Retter sind nicht die einzige Nachricht, die heute Morgen aus Texas kommt«, sagte das Radio des alten Knackers, und ich erstarrte mit meiner halb an die Lippen gehobenen Kaffeetasse. Im Mund spürte ich das saure Kribbeln, das ich zu deuten gelernt hatte. Ein Psychologe hätte es vielleicht als Presque-vu bezeichnet – das Gefühl, dass gleich etwas Außergewöhnliches geschehen wird –, aber mein Name dafür war weit bescheidener: eine Harmonie.
»Auf dem Höhepunkt eines Gewitters hat kurz nach ein Uhr morgens ein Tornado Fort Worth erfasst und ein Montgomery-Ward-Lagerhaus und rund ein Dutzend Wohnhäuser zerstört. Zwei Personen wurden tot geborgen, vier weitere werden noch vermisst.«
Dass zwei dieser Häuser die Nummern 2703 und 2706 in der Mercedes Street waren, stand für mich außer Zweifel; ein zorniger Wind hatte sie ausradiert wie eine falsche Gleichung.
Kapitel 30
KAPITEL 30
1
Am 26. November kurz nach Mittag stieg ich in Auburn, Maine, an der Busstation Minot Avenue aus meinem letzten Greyhound. Nach über achtzig Stunden fast ununterbrochener Busfahrerei, die mir die kurzen Schlafphasen nur wenig erleichtert hatten, fühlte ich mich, als würde ich nur noch in meiner Einbildung existieren. Es war kalt. Gott räusperte sich und spuckte gelegentlich Schnee aus einem schmutzig grauen Himmel. Als Ersatz für die Arbeitskleidung einer Spülkraft hatte ich mir Jeans und ein paar blaue Arbeitshemden aus Baumwolle gekauft, die aber bei Weitem nicht ausreichten. Während meines Aufenthalts in Texas hatte ich das Wetter
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