Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Main Street und Old Lewiston Road.
    »Zur Fruit?«, fragte er.
    Ich war so lange fort gewesen, dass mir das einen Augenblick lang als total unlogisch erschien. Dann klickte es. »Ja, genau. Zur Kennebec Fruit.«
    Nach Hause, dachte ich. Gott steh mir bei, ich gehe nach Hause.
    Nur stimmte das nicht. 2011 war nicht mein Zuhause, und ich würde nicht lange dort bleiben – immer unter der Voraussetzung, dass ich überhaupt hingelangen konnte. Vielleicht nur für ein paar Minuten. Jodie war jetzt mein Zuhause. Oder würde es sein, sobald Sadie dort ankam. Sadie die Jungfrau. Sadie mit ihren langen Beinen und dem langen Haar und ihrem Hang, über alles zu stolpern, was irgendwie im Weg war … nur dass im kritischen Augenblick ich derjenige gewesen war, der zu Fall gekommen war.
    Sadie mit ihrem makellosen Gesicht.
    Sie war mein Zuhause.
    3
    An diesem Morgen wurde mein Taxi von einer stämmigen Mittfünfzigerin gefahren, die in einen alten, schwarzen Parka eingemummt war und statt einer Mütze mit dem Aufnäher TAXIKONZESSION eine Red-Sox-Kappe trug. Als wir in Richtung The Falls nach links auf die 196 abbogen, sagte sie: »Ham Sie die Meldung gehört? Eher nich, schätz ich – hier in der Gegend ist nämlich der Strom ausgefallen.«
    »Welche Meldung meinen Sie?«, fragte ich, obwohl mich bereits eine schreckliche Gewissheit erfasst hatte: Kennedy war tot. Keine Ahnung, ob er bei einem Unfall, wegen eines Herzanfalls oder doch durch ein Attentat gestorben war, aber er war tot. Die Vergangenheit war unerbittlich, und Kennedy war tot.
    »Erdbeben in Los Angeles.« Sie sprach den Namen Las Ange-lies aus. »Die Leute sagen seit Jahren, dass Kalifornien einfach irgendwann ins Meer abbricht, und jetzt sieht’s so aus, als könnten sie vielleicht recht haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sag nicht, dass das von dem lockeren Lebenswandel der Leute dort draußen kommt – diese Filmstars und alle –, aber ich bin ’ne ziemlich gute Baptistin, drum sag ich nicht, dass es nicht davon kommt.«
    Wir fuhren gerade am Autokino von Lisbon vorbei. DEN WIN TER ÜBER GESCHLOSSEN , stand auf dem Vordach. AUF WIEDERSEHN ’64 MIT VIELEN NEUEN FILMEN!
    »Wie schlimm war es?«
    »Die Rede ist von siebentausend Toten, aber wenn man eine solche Zahl hört, weiß man, dass sie sich erhöhen wird. Die meisten Dammbrücken sind eingestürzt, die Freeways liegen in Trümmern, und überall gibt’s Brände. Der Teil der Stadt, in dem die Neger leben, scheint fast ganz abgebrannt zu sein. Warts! Ist das nicht ein schlimmer Name für ’nen Stadtteil? Ich meine, selbst für einen, in dem Schwarze leben? Warzen! Ha!«
    Ich antwortete nicht darauf. Ich musste an unser Hündchen Rags danken, das wir hatten, als ich neun war und wir noch in Wisconsin wohnten. An Schultagen hatte ich morgens mit ihm im Garten spielen dürfen, bis der Bus kam. Ich brachte ihm bei, Platz zu machen, zu apportieren, sich auf der Erde zu wälzen, solches Zeug, und er lernte rasch – kluger Hund! Ich liebte ihn innig.
    Wenn der Bus kam, sollte ich das Gartentor schließen, bevor ich losrannte, um einzusteigen. Rags legte sich dann immer auf die Stufen zur Küchentür. Meine Mutter ließ ihn herein und fütterte ihn, wenn sie zurückkam, nachdem sie meinen Dad zu unserer Bahnstation gefahren hatte. Ich dachte immer daran, das Tor zu schließen – oder ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, es jemals vergessen zu haben –, aber als ich eines Tages von der Schule heimkam, sagte meine Mutter, Rags sei tot. Er sei auf der Straße gewesen und von einem Lieferwagen überfahren worden. Sie machte mir niemals explizit Vorwürfe, keinen einzigen, aber ihr Blick war Tadel genug. Denn auch sie hatte Rags geliebt.
    »Ich habe ihn eingesperrt wie immer«, sagte ich damals unter Tränen, und ich glaube – wie schon gesagt –, dass ich das tatsächlich getan hatte. Vielleicht weil ich es immer getan hatte. An diesem Abend begruben mein Dad und ich ihn im Garten. Wahrscheinlich gesetzeswidrig, sagte mein Dad, aber wenn du nichts verrätst, tu ich das auch nicht.
    In jener Nacht lag ich endlos lange wach: verfolgt von etwas, woran ich mich nicht erinnern konnte, und entsetzt darüber, was ich vielleicht getan hatte. Von Schuldgefühlen ganz zu schweigen. Dieses schlechte Gewissen hielt lange an, mindestens ein Jahr. Hätte ich mich sicher erinnern können – so oder so –, wären meine Schuldgefühle bestimmt schneller abgeklungen. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Hatte

Weitere Kostenlose Bücher