Der Apfel fällt nicht weit vom Mann
Bluse. Gypsy umklammerte stolz die Siegerschleife, die sie für ihre Zeichnung von Evangeline als Medusa erhalten hatte.
»Unsere liebe Barbara Wingrove war Preisrichterin bei den Kindern«, erklärte Judy und zeigte auf eine der netteren Nachbarinnen. »Sie ist auch kein großer Fan von Evangeline Whitehead ... Du hättest mal sehen sollen, wie sie sich das Lachen verbeißen musste, als sie Gypsys Zeichnung sah!«
»Und ich hab auch noch eine Riesentüte mit Süßigkeiten gewonnen, Pip!«, rief Gypsy aufgeregt.
»Und du hast gewonnen, weil du es verdient hast, mein Schatz.« Pip bückte sich, um ihre kleine Schwester in die Arme zu nehmen. »Deine Zeichnung ist genial, aber das nächste Mal nimmst du lieber keine Einheimischen als Motiv, okay?«
»Na gut.«
»Vielleicht solltest du das auch dem Sieger bei den Erwachsenen sagen?« Grinsend stupste Susan Pip an, um sie auf das Siegergemälde des Wettbewerbs aufmerksam zu machen, vor dem sich gerade eine ansehnliche Menschenmenge versammelte.
Das Bild trug den Titel »Aphrodite« und stammte von Anthony Geddes, der in dem kleinen Ort so etwas wie eine Berühmtheit war.
Von der Schönheit der Pinselstriche bezaubert, hatte Barbara Wingrove das Gemälde nur wenige Minuten betrachtet, bis sie ihre rote Siegerschleife an den verschnörkelten Goldrahmen heftete. Den restlichen Dorfbewohnern allerdings war mehr das Motiv des Ölgemäldes aufgefallen.
Eine junge Frau war darauf zu sehen, die nackt vor einem hohen Spiegel stand, eine Orchideenblüte im langen blonden Haar. Ihr Körper, schlank und wohlgeformt, war dem Spiegel zugewandt, sodass das Gesicht und die vollen Brüste der Frau nur zu erahnen waren.
Ein umwerfendes Bild, das facettenreiche Kommentare von »peinlich und geschmacklos« über »empörend« bis zu »hervorragend und unübertrefflich« provozierte.
Reverend Felice hatte es an diesem Vormittag fast übermenschliche Kraft gekostet, den Blick von diesem Teufelswerk abzuwenden. Er hätte das Gemälde am liebsten nicht zur Ausstellung zugelassen, weil es sich bei der Herbstmesse schließlich um eine Veranstaltung für die ganze Familie handelte. Aber seine Frau Hilary bemühte sogar die Bibel, um dem Bild zu seinem Recht zu verhelfen. Adam und Eva seien schließlich auch nicht in Tweed rumspaziert. Mit Nägeln im Mund und einem Hammer in der Hand hatte sie sich trotzig daran gemacht, das Bild auf dem besten Platz an der Stirnseite der Dorfhalle aufzuhängen.
»Wenn Gott gewollt hätte, dass wir Kleidung tragen, dann wären wir in Anzügen und Stiefeln zur Welt gekommen«, hörte Pip sie gerade mit lauter Stimme zu Felicity Jenson sagen.
»Und Hilary wäre im Tweedkostüm und Pumps und mit einem Perlenkettchen um den Hals geboren ...«, flüsterte Susan. »Pass auf, gleich lässt sie aus Solidarität noch alle Hüllen fallen. Aber weißt du was? Ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir da den blanken Allerwertesten einer Frau betrachten, die wir kennen.«
»Das versuchen wir ja gerade rauszukriegen ... wer könnte das bloß sein?« Bridget war gekommen, um die Charteris-Damen anzufeuern, obwohl ihr Vater selbst am Brau- und Kelterwettbewerb teilnahm. Sie schleifte eine ziemlich störrische Flora am Handgelenk zum Bild hinüber. »Irgendwie sieht sie aus, als würde ich sie kennen – nein, nein, woher sollte ich denn eine nackte Frau kennen, aber wahrscheinlich ist sie doch von hier ... was meinst du, Flora?« Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, den Teil des Gesichtes zu identifizieren, der im Spiegel noch zu sehen war.
»Die Frau auf dem Bild? Ich wette, das ist Louisa Trehayle aus dem Coffee-Shop in Quinn«, brummelte Flora, während sie hinter dem Rücken die Finger kreuzte. »Die hat doch schon immer eine Schwäche für Anthony gehabt.«
»Aber das ist nicht Louisas Hintern.« Bridget legte den Kopf schräg. »Louisas Po ist mindestens zweimal so breit wie der hier auf dem Bild.«
»Das wäre meiner auch, wenn ich in dem Café arbeiten würde ... hast du mal ihre Zitronentarte probiert?« Flora kannte Bridgets Schwächen und beobachtete, wie ihrer Freundin schon beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlief. »Also, ich finde, wir sollten mal schnell rübergehen und gucken, ob es dieses Jahr einen Kuchenstand gibt. Letztes Jahr hat jemand ein ganzes Blech Karamell-Shortbread gespendet, das war so was von oberlecker ...«
Flora hatte ihr Ziel erreicht und Bridgets Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Leider war es ihr
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