Der Apfel fällt nicht weit vom Mann
ziemlich frei war. Trotzdem bewegte sich Pips weißer Mini immer langsamer vorwärts, je näher sie der kornischen Küste kam.
Als sie schließlich die schmale, sich durch die Landschaft schlängelnde Straße erreichte, die in ihr Heimatdorf führte, fuhr sie quasi Schritttempo. Sie konnte es sich genauso gut endlich eingestehen.
Sie wollte nicht nach Hause.
Sie liebte ihre Mutter, ihre Tante, ihre Schwestern, wirklich, sie liebte sie alle von ganzem Herzen.
Aber sie machten sie fertig.
Wie Nancy in einem ihrer melodramatischen Augenblicke sagen würde: Sie saugten ihr das Blut aus dem Körper wie die Vampire. Selbstverständlich auf ausgesprochen nette Art und Weise. Wenn man es denn als nett bezeichnen konnte, wenn einem ein Vampir das Blut aussaugte. Gab es überhaupt nette Vampire? Höfliche? Tut mir furchtbar leid, aber ich habe einen solchen Durst, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie mal eben komplett aussaugte? Vielen Dank!
Das Problem war nämlich, dass Pip für ihre Schwestern nicht einfach nur ihre große Schwester war.
Sie war auch ihre Köchin, ihre Fahrerin, ihr Kindermädchen, ihre Vertraute, ihre Aufpasserin, ihre Privatbank, ihr Kummerkasten, ihre Mentorin, ihre Gesprächspartnerin und ihre Ersatzmutter, wenn es darum ging, vernünftig zu bleiben.
Dass ihre Mutter jedes Mal, wenn Pip auftauchte, mehr als bereitwillig die Nutzlose spielte, half natürlich auch nicht. Dabei war ihre Mutter alles andere als nutzlos. Sie war klug, aufgeweckt, lustig, schön, ein bisschen verrückt, Märtyrerin ihrer Gefühle – und sie litt an ihrem gebrochenen Herzen.
Judy war am Tod ihres Mannes zerbrochen. Die achtjährige Pip hatte die Scherben zusammengehalten. Man gewöhnte sich schnell an eine Krücke und verließ sich oft auch dann noch auf sie, wenn sie gar nicht mehr benötigt wurde. Pip war Judys Krücke.
Wenn Mum sich jetzt immer noch in ihrem Bett versteckte, war ihre Anwesenheit vielleicht sogar eher kontraproduktiv, ging es Pip durch den Kopf, denn dann hätte sie eine Ausrede, nicht aufstehen zu müssen: Sie wurde ja nicht gebraucht.
Nur noch wenige Meter, und die legte sie langsamer zurück als die vielen Kilometer von Bristol bis hierher.
Aber es hatte auch etwas für sich, dass sie durch die Landschaft schlich wie eine kurzsichtige Oma, denn plötzlich war Pip nicht mehr allein auf der Straße.
Zuerst dachte sie, ein Stück Wild sei rechts aus der Hecke gesprungen, gerade da, wo die Fahrbahn so schmal war, dass nur Platz für ein Auto war.
Zum Glück reagierte sie blitzschnell, stieg in die Eisen, würgte bei der Vollbremsung den Motor ab und sah dem rehähnlichen Hund nach, wie er elegant vor ihr die Straße überquerte.
Pip seufzte erleichtert auf, weil sie die Kollision mit dem Tier vermieden hatte. Doch im nächsten Moment sog sie gleich wieder Luft ein und wappnete sich: Sie sah Ärger auf sich zukommen.
Major Jenson.
Der nächste Nachbar der Charteris-Mädchen lebte im Anwesen Gallant Manor auf der anderen Seite der Straße.
Major Jenson war Vorsitzender des hiesigen Kirchenvorstands und mit dem größten, buschigsten Paar Augenbrauen ausgestattet, das Pip je an einem Menschen gesehen hatte. Wie gigantische, langhaarige Raupen machten sie sich auf seiner Stirn breit. Eigentlich hätten sie besser zu einem Yak gepasst.
Jenson heizte in der Regel wie der Henker mit einem seiner Allrad-Geländewagen über die schmalen Straßen, und auch jetzt röhrte er in einem alten, klapprigen Landrover, den man aufgrund eines Lochs im Auspuff bereits in kilometerweiter Entfernung hören konnte, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf den Hund zu, dem Pip gerade noch Vortritt gelassen hatte.
Glücklicherweise rettete sich das Tier mit einem Satz von der Straße auf die steile Böschung, als Major Jenson vorbeibretterte. Aus dem Seitenfenster hechelte der schokoladenbraune Labrador Guinness.
Das Herz schlug Pip bis zum Hals, als Jenson sie laut hupend passierte, und sie atmete erleichtert auf, als sie das schöne Tier unversehrt und schwanzwedelnd auf der Böschung stehen sah.
Erst da bemerkte Pip, dass der Hund etwas im Maul hatte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein merkwürdig geformter Stock, doch dann begriff sie, dass es sich nicht um einen Holzstock handelte, sondern um ein Baguette.
Im nächsten Moment machte der Hund eine Kehrtwende und verschwand durch eine Lücke in der Hecke.
Pip ließ ihren geliebten Mini wieder an und entschuldigte sich bei ihm, dass sie ihn
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