Der Apfel fällt nicht weit vom Mann
Rory Trevelyans rechter Hand hinaufgearbeitet – effizient, vertrauenswürdig, von allen respektiert. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr war Judy davon überzeugt, dass alles hatte genau so kommen sollen.
Alles, was sie bislang durchgemacht hatte, war nötig gewesen, um sie an diesen Punkt zu bringen. Raphael hatte sie nicht zerstört, sondern ihr neue Kraft verliehen, indem er sie dazu zwang, die starke, unabhängige und erfolgreiche Frau zu sein, die sie in Wirklichkeit war ... Sie war jetzt nicht mehr Judy, das Opfer, sondern Judy, die Macherin.
Dank ihrer lebhaften Fantasie strahlte sie beim Aussteigen aus dem Auto übers ganze Gesicht und machte sich beschwingt und voller Optimismus auf den Weg.
Als ihr dann auch noch die gesamte Besatzung des Fährschiffes anerkennend hinterherpfiff, flatterte Judy förmlich in die Innenstadt wie ein lebenshungriger Schmetterling, der sich aus seinem Kokon befreit hatte.
– 12 –
Pip wurde leider nicht vom gleichen Optimismus getragen wie ihre Mutter.
Während Tante Susan Flora zum Gymnasium in der Stadt gefahren hatte, brachte Pip Gypsy zur Grundschule in Tor, wo sie die Rektorin Miss Jenkinson bereits am Eingang abfing.
Amelia Jenkinson war bereits seit dreißig Jahren die Rektorin der Grundschule von Tor und kannte daher alle vier Charteris-Mädchen nur zu gut.
»Pip! Pip Charteris!« Ziemlich unsanft landete eine Hand auf Pips Schulter, als sie gerade das Auto abschloss. »Wie gut, dass du hier bist!«
Brandstiftung. Diebstahl. Gewaltanwendung und Körperverletzung. Beihilfe zu diversen anderen Vergehen.
Gypsy war eine Junior-Gangsterin.
Der Al Capone der Grundschule von Tor.
Als neulich im Unterricht mal darüber gesprochen wurde, was die Kinder später einmal werden wollten, soll Gypsy »Bankräuber« geantwortet haben. Pip war nur froh, dass ihre Schwester noch zu jung war, um alkoholisiert Auto zu fahren.
»Sie ist unglaublich aufgeweckt, Pip«, sagte Amelia Jenkinson am Ende der Standpauke. »Ich würde sie ja ein Goldstück nennen, wenn sie nicht gleichzeitig so ein Feger wäre. In meinen Augen besteht ihr Problem zum größten Teil darin, dass wir ihr nicht wirklich etwas beibringen können. Sie ist allen anderen voraus. Offen gestanden, bin ich mir gar nicht sicher, ob das hier die richtige Schule für sie ist. In jeglicher Hinsicht.«
»Aber was sollten Sie denn sonst mit ihr machen?«, fragte Pip.
Amelia schlug eine Privatschule für Hochbegabte vor, und als Pip klarstellte, dass sie sich nicht einen Penny Schulgebühren leisten konnten, informierte die Lehrerin sie über die Möglichkeit eines Stipendiums. Außerdem gäbe es eine Aufnahmeprüfung.
Aufnahmeprüfung? Pip kannte ihre Schwester. Die wollte so wenig wie möglich tun und drohte regelmäßig damit, die paar Hausaufgaben, die sie aufhatte, in den Kamin zu schmeißen und einen Freudentanz aufzuführen, wenn die Hefte lichterloh brannten.
Doch Pip versprach, darüber nachzudenken und auf jeden Fall ein ernstes Wort mit ihrer Schwester zu reden wegen ihres Benehmens.
Na, prima. Ruck, zuck hatte sie ein weiteres Problem am Hals.
Pip gelang es, sich auf ihre nächste Station zu konzentrieren, nämlich die Kanzlei Stephens, Crown und Simkins. Der Familie Charteris seit langen Jahren freundschaftlich und anwaltlich verbunden. Thomas Stephens hatte kurzfristig einen Termin mit Pip einrichten können.
Ihre Mutter hatte gegen die Stiftungsstatuten verstoßen und Raphael das ganze Geld gegeben – vielleicht konnte auch sie jetzt gegen Stiftungsstatuten verstoßen, das Haus verkaufen und ihren Schwestern aus der Patsche helfen.
Doch als Pip in dem großen Ledersessel in seinem Büro saß und sich wieder einmal vorkam, als spräche sie bei einem Rektor vor, seufzte er nur und schüttelte den Kopf. Er nahm die Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und sah Pip so mitfühlend an, dass sie hätte heulen mögen.
»Erbrecht ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, Persicoria. Im Testament deines Vaters war ein Passus, der es Judy erlaubte, im Notfall das Stiftungsvermögen anzuzapfen. Ein anderer Passus bestimmte dich zur rechtmäßigen Eigentümerin von Arandore, allerdings mit der Auflage, dass du Arandore niemals verkaufen darfst. Du darfst es höchstens an deine Nachfahren vererben.«
»Ich kann also nichts machen?«
»Tut mir leid. Ich habe versucht, deine Mutter aufzuhalten, Pip, ich habe sie eindringlich davor gewarnt, jemandem Geld zu geben, den sie kaum kannte.
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