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Der Apfel fällt nicht weit vom Mann

Der Apfel fällt nicht weit vom Mann

Titel: Der Apfel fällt nicht weit vom Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Harvey
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durchschaut, dass sie von allen Charteris-Töchtern ihrer schönen Mutter am allerwenigsten ähnlich sah.
    Was sie seltsamerweise nicht durchschaut hatte, war, dass sie zwar anders aussah als ihre Mutter, in Wirklichkeit aber noch viel, viel schöner war als diese oder ihre Schwestern. Ihr war auch nicht bewusst, dass ihr viel mehr männliche Aufmerksamkeit zuteil wurde als ihrer Mutter, was vielleicht daran lag, dass diese Aufmerksamkeit subtiler war. Viola mit ihrer latent feindseligen Art zog in erster Linie schmachtende Blicke auf sich, während die offenherzige, lebhafte Judy mit Komplimenten überhäuft wurde.
    Aber Viola sah nur, dass sie aus der Reihe fiel. Sie empfand sich als die einzige Nicht-Schönheit inmitten einer Familie von Schönheiten, und dann nervte es ganz einfach, wenn die neunundvierzigjährige Mutter besser bei den Männern ankam als man selbst.
    Dass sie den lieben langen Tag nichts zu tun hatte, trug auch nicht gerade zu besserer Stimmung bei. Einen todsterbenslangweiligen Job wollte sie nicht annehmen, und an die Uni wollte sie auch nicht. Schließlich würde sie sich das Studium selbst verdienen müssen, und das würde heißen, dass sie studieren und einen langweiligen Job annehmen müsste, und darauf hatte sie nun wirklich keinen Bock.
    Also stand Viola wie so viele andere Altersgenossen vor der Frage: Schule abbrechen oder Abitur machen? Lehre oder Studium? Oder einfach so anfangen zu arbeiten, ungelernt? Erst mal Geld verdienen? Gab es wirklich unendlich viele Möglichkeiten? Oder aber in Wirklichkeit keine einzige? Viola wusste genau, dass sie etwas Besonderes mit ihrem Leben anfangen wollte. Etwas Besseres, etwas Aufregendes. Aber gleichzeitig hatte sie keine Ahnung, was dieses Bessere und Aufregende sein könnte.
    In diesem Dilemma steckte Viola nun schon eine ganze Weile, ohne dass sie viel dagegen getan hätte. Doch an diesem Abend im Fisherman’s Boots, als sie ihre Mutter dabei beobachtete, wie sie lächelnd und lachend arbeitete und etwas genoss, von dem keiner geglaubt hätte, dass es ihr Spaß machen könnte, fiel es Viola plötzlich wie Schuppen von den Augen.
    Ihr ging auf, dass das »Bessere« und »Aufregende« ihr bestimmt nicht im örtlichen Pub vor die Füße fallen würde. Entschlossen sprang sie vom Hocker und steuerte den Ausgang an.
    Und da sah sie ihn.
    Zwar platzte der Pub fast aus allen Nähten vor lauter Männern, aber er fiel ihr aus zwei Gründen auf: Erstens passte er überhaupt nicht in die maritime Einrichtung des Lokals. Er trug enge Jeans und ein All-Saints-T-Shirt mit Totenkopf auf der Brust. Schwarze Haare, käsebleicher Teint, stahlblaue Augen und so lange, schwarze Wimpern, dass Viola vermutete, er hatte sie getuscht. Zweitens war er höchstens Mitte zwanzig und stach darum aus der versammelten Mannschaft mittleren Alters hervor. Außerdem hielt er sich vom Gedränge an der Bar fern. Er stand an der Tür und ließ den Blick durch den Pub schweifen, als suche er jemanden oder etwas.
    Da blieb sein Blick an Viola hängen.
    Unverwandt sah er sie an.
    Viola, die es nicht gewöhnt war, so direkt mit Aufmerksamkeit bedacht zu werden, glaubte zunächst, er würde etwas oder jemand anderes ansehen. Sie blickte sich kurz um, ob ihre Mutter wohl hinter ihr stand. Tat sie nicht. Als Viola schließlich ganz langsam und vorsichtig wieder zu dem jungen Mann sah, bestand gar kein Zweifel, dass er sie und nur sie im Visier hatte.
    Judy hatte er noch nicht einmal bemerkt.
    Und gerade, als Viola befürchtete, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte (vielleicht hatte Gyps ihr im Schlaf einen Schnurrbart gemalt oder ihr die Augenbrauen abrasiert?), lächelte er.
    Ein langsames, überlegtes und zweifelsfrei verführerisches Lächeln.
    Er war absolut nicht Violas Typ. Viola stand auf braungebrannte Surfertypen, muskulöse, aktive Outdoorkerle, bei denen einem am Strand die Kinnlade herunterfiel.
    Doch das Mädchen, das ihm normalerweise einen vernichtenden Blick zugeworfen hätte, erwiderte nun sein Lächeln.
    Dann bahnte sich Morven mit einigen dampfenden Tellern einen Weg durchs Gedränge hindurch, sodass sie die Sicht verlor.
    Als sie weg war, war auch er verschwunden.
    Viola gab dem Impuls nach, ihm zu folgen, doch bis sie sich durch das Getümmel gearbeitet hatte, war er offenbar ganz aus dem Pub verschwunden.
    Enttäuscht sah Viola sich um.
    Und entdeckte einen Zettel an einem der Fenster.
    Sie las ihn und lächelte.

– 19 –
    Langsam fuhr er die weite Einfahrt

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