Der Apfel fällt nicht weit vom Mann
aussehendes Make-up. Sie hatte geglaubt, dass sich solches Allerlei in ihrer Handtasche befinden würde.
Aber da war nur eine olle Strickjacke, zwei ungeöffnete, verdächtig rote Umschläge von der Stromgesellschaft und dem Wasserversorger, eine entzückende Bleistiftzeichnung von Eddie, Judys Borderterrier, unter der stand »hab dich lieb, mummy, tut mir leid das ich aus deinem lieblingspulli eine mütze für eddie gemacht hab« sowie ein Portemonnaie mit genau fünf Pfund und vierundzwanzig Pence darin, einem herrlichen alten Foto von der ganzen Charteris-Familie, wie sie lachen und sich umarmen ... und noch hinter der Visitenkarte der Kanzlei Stephens Crown und Simkins steckte ein deutlich neueres Foto von einem attraktiven, dunkelhaarigen jungen Mann, der der Kamera strahlend eine Kusshand zuwarf. Das Foto war mit seltsamen weißen Flecken übersät ... als ob ... Opal sah genauer hin ... als ob jemand darüber geweint hätte.
Opal beeilte sich, das Bild zurück in das Portemonnaie und das Portemonnaie zurück in die Handtasche und die Handtasche zurück in den Schrank in der kleinen Kammer zu stecken.
Dann stand sie einen Moment lang einfach nur da und sah die Schranktür an, als könne sie durch sie hindurchsehen und noch einen letzten Blick in die beutelige Handtasche erhaschen.
Nein, ihre Würste hatte Opal darin nicht gefunden.
Aber ein Stück Lebensweisheit.
Sie hatte einen Einblick in das echte Leben gewonnen.
Und schämte sich fast ein bisschen.
Judys Tasche war nicht die Tasche einer selbstverliebten Narzisstin. Sie war die Tasche einer Mutter. Einer Frau, die geliebt hatte und enttäuscht worden war. Einer Frau, die jetzt alles tat, um ihr Leben und ihre Familie zusammenzuhalten und die dafür zu den unmöglichsten Zeiten in einer Kneipe schuftete. Einer Frau, der sie so viel Herzlichkeit entgegengebracht hatte wie einem Grippevirus.
Der Hass, den Opal für Judy gehegt hatte, ließ nach und richtete sich dann auf einmal gegen sie selbst.
Was war sie nur für ein Mensch?
Sie war auf dem besten Wege, sich in eine verbitterte alte Hexe zu verwandeln. Vielleicht war sie deshalb so hässlich. Vielleicht spiegelte ihr Äußeres nur ihr Inneres wider.
Über dem Waschbecken hing ein Spiegel an der Wand. Opal stellte sich davor. Sah in ihre hohlen, verkniffenen, grauen Augen. Und brach in Tränen aus.
Judy fand sie schließlich, als sie selbst die Toilette aufsuchte.
Trotz der Feindseligkeit, die sie von Opal erfahren hatte, ging sie sofort zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie ließ Opal weinen, bis sie sich langsam wieder beruhigte, dann löste sie sich vorsichtig von ihr.
»Opal? Opal, was ist denn bloß los?«
Doch Opal war noch nicht wieder imstande, zu antworten.
Judy holte ihr ein paar Stücke Klopapier, half ihr, als sei sie eine ihrer Töchter, sich die Augen trocken zu wischen und sich dann ordentlich die Nase zu putzen.
»Ich bin so ...«, hob Opal an und musste wieder schluchzen.
»Du bist so ...?«
»Ich bin so ...«, versuchte Opal es noch einmal.
»Unglücklich? Krank? Verzweifelt? Hast du Schmerzen?«
Doch Opal sah nur in den Spiegel und fing angesichts ihres hohläugigen, verkniffenen, grauen und jetzt auch noch verheulten Gesichts wieder hemmungslos an zu weinen.
»Opal, bitte. Du machst mir Angst. Bitte sag mir doch, was los ist! Du bist so was ?«
Wütend blinzelte Opal sich selbst im Spiegel an, versuchte, den nächsten Schluchzer zu unterdrücken und jenes Wort auszusprechen, das ihr fast die Luft abschnürte.
»Hässlich!!!«, spuckte sie schließlich aus. »Ich bin so unglaublich hässlich!!«
Judy hatte ja eine ganze Palette von Wörtern erwartet, aber ›hässlich‹ hatte ganz sicher nicht dazugehört.
Ihr klappte ehrlich überrascht die Kinnlade herunter.
»Das ist nicht dein Ernst, oder? Opal, du bist doch nicht hässlich ... im Gegenteil ...«
Doch Opal unterbrach sie, indem sie heftig nickte.
»Doch, bin ich. Von innen und von außen. Hier oben ...« Sie tippte sich an den Kopf. »Hier drin ist alles so schrecklich und gemein und fies und hässlich, und von außen, dieses ... dieses Gesicht ...« Opal begann, ihr Gesicht zu bearbeiten, zog alles nach hinten, damit die Falten verschwanden. »Ich bin das Letzte, ich bin Abschaum. Alles an mir hängt herunter ... Wusstest du, dass ich gespart habe?« Mit geröteten Augen sah sie Judy an. »Wie eine Blöde habe ich Geld gespart, um mir das Gesicht liften zu lassen ...«
»Du willst dich
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