Der Apotheker: Roman (German Edition)
Hauptstadt in ihnen hinterlassen hatte. Doch bis auf den jeweiligen Akzent, der sie zwang, laut und durchdringend, aber oft unverständlich zu schreien, entdeckte ich zu meiner Enttäuschung kaum Unterschiede zwischen ihnen und den Dorfbewohnern, unter denen ich aufgewachsen war. Ich hatte mir sehr viel mehr erhofft.
Ich tröstete mich damit, dass ich zu wenig Londoner kannte, um mir ein Urteil zu erlauben. Das Haus durfte ich nur verlassen, um an der Schwengelpumpe Wasser zu holen und sonntags in die Kirche zu gehen. Anfangs hatte ich keine großen Einwände gegen diese Regelung. Die Pumpe lag nicht besonders weit entfernt am Ende der Gasse, und ich nahm gern die kurze Wegstrecke in Kauf, die genügend Ablenkung bot, um mir das Gewicht der Eimer zu erleichtern. Wenn ich das Bedürfnis hatte, mehr von der Stadt zu sehen, kletterte ich auf unseren Dachboden und beugte mich aus dem Fenster. Der Anblick der von den beiden herrlichen Türmen flankierten Kuppel heiterte mich jedes Mal auf. Sie thronte über dem Rauch, dem Schmutz und dem Gewirr der Stadt wie ein Herrscher, dem all das nichts anhaben konnte. Nie sah sie nach unten. Und selbst wenn alles rings um sie her im Morast versank, würde sie auf die diesigen braunen Hügel von Surrey blicken, gewaltig und unerschütterlich. Undenkbar, dass diese Kuppel von den Menschen erbaut war, die in ihrem Schatten dahinhasteten. Viel lieber stellte ich mir vor, dass sie sich in ihrer ganzen Vollendung aus einer Stadt unterhalb der sichtbaren emporgehoben hatte, einer Stadt von ungeahnter Majestät und ungeahntem Glanz, wo Menschen, groß wie Häuser und in goldene Röcke gekleidet, edelsteinbesetzte Straßen entlangschritten. Ich malte mir immer wieder den Moment aus, da ihr goldenes Kreuz die schmutzige Erdkruste Londons durchstoßen, sich die Kuppel unaufhaltsam höher und höher erhoben und die zwergenhaft kleinen Bewohner der Metropole und ihre streichholzschachtelgroßen Häuser mit glorreicher Missachtung bedacht hatte. An bewölkten Tagen schien es, als stiege die Kuppel noch höher empor.
An meinem ersten Sonntag in der Swan Street begleitete ich Mrs Black zur Kirche. Sie ermahnte mich eindringlich, nicht von ihrer Seite zu weichen, da die Stadt, wie sie mit warnendem Stirnrunzeln sagte, die Unvorsichtigen unversehens verschlinge. Aber ich ließ mir trotzdem Zeit, angenehm verwirrt vom Getöse und Gedränge auf den Straßen. Zumindest in London schien Gott eine Ausnahme von seinen strengen Sabbatvorschriften zu machen. Die Kirche war sehr viel großartiger als irgendeine, die ich bis dahin gesehen hatte. Es war fast eine Kathedrale, der Mittelgang doppelt so breit wie der in der Kirche meines Vaters und mit Säulen, dicker als ein Bürgermeister. Der Pfarrer war ein nervöser Mensch mit käsigem Teint und einem Frosch im Hals – eine unerwartete Quelle der Erheiterung, da ihm manche Worte mit einem schrillen Quieken entschlüpften, andere dagegen überhaupt nicht herauswollten, woraufhin er puterrot anlief wie ein kleines Mädchen. Dieser Vergnüglichkeiten bald überdrüssig, vertrieb ich mir die Zeit damit, dass ich die Versammlung der Gläubigen beobachtete. Besonders eine Frau fesselte meine Aufmerksamkeit, da sie die Angewohnheit hatte, alles, was der Pfarrer sagte, lautlos nachzusprechen. Bei jedem seiner Worte öffnete sie den Mund und streckte den Kopf nach vorn, als hoffte sie, es wie eine Hostie auf ihrer Zunge zu empfangen. Solche Belustigungen waren jedoch nur eine dürftige Entschädigung, denn anschließend musste ich eine weitere Stunde mit Mrs Black verbringen, in der sie mir aus der Bibel vorlas. Gelegentlich forderte sie mich auf, die Verse zu wiederholen, damit sie meine Aussprache korrigieren könne. Mary, die Glückliche, hatte an diesem Tag frei und verbrachte ihn im Bett. In jenen Nächten war das Bett heiß und zerwühlt und voller Krümel. Ich schimpfte sie heftig aus wegen ihrer Unachtsamkeit, aber es war bitterkalt, und in Wahrheit war ich dankbar für die dumpfe Wärme.
Am Sonntag blieb der Laden geschlossen. Wenn die Gitter heruntergelassen und die Regale mit den Flaschen und Gläsern mit Kambrik verhängt waren, wirkte das Haus noch dunkler. Solche Vorkehrungen erschienen mir kaum nötig, denn in der ersten Woche, die ich hier verbrachte, hätte der Laden genauso gut geschlossen bleiben können. Nur selten kamen Kunden, und an manchen Tagen läutete die Ladenglocke überhaupt nicht. Wenn dann die Herrin außer Haus war, kam Edgar
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