Der Apotheker: Roman (German Edition)
Ich sah ihn deutlich vor mir, seine blinden Augen leer, während er sich in meinen Bauch grub und sich immer tiefer in mein Fleisch krallte. Von Tag zu Tag wurde er kräftiger und unerbittlicher, und doch war seit meiner Ankunft nichts gesagt und nichts unternommen worden. Zuerst glaubte ich, der bittere Tee, den ich morgens trank, wäre aus Giftwacholder oder einem anderen Kraut gebraut und würde mich aus meiner misslichen Lage befreien. Aber denselben Tee trank auch Mary, mit reichlich Zucker gesüßt, den sie vom Zuckerhut abschabte, sobald Mrs Black die Küche verließ. Als ich mich vorsichtig erkundigte, gab mir Mrs Black zur Antwort, ich könne froh sein über das Privileg, Tee aus Blättern trinken zu dürfen, die den weiten Weg aus Indien hierher gefunden hatten; der erste Aufguss sei für den Apotheker, der zweite Aufguss zum Frühstück für uns bestimmt. Dieser Tee war so kostbar, dass er nicht zusammen mit den anderen Lebensmitteln in der Speisekammer aufbewahrt wurde, sondern in einer verschlossenen Blechdose im Esszimmer, zu der nur Mrs Black den Schlüssel hatte.
»Das ist ein Geschenk des Apothekers eigens für Mary«, sagte Mrs Black mit einer Miene, die weder ein Stirnrunzeln noch ein Lächeln, sondern eine Mischung aus beidem ausdrückte. »Er behauptet, sie habe eine Schwäche für diesen Tee, aber woher er das weiß …« Sie räusperte sich. »Du wirst sicher auch noch auf den Geschmack kommen. Ich habe festgestellt, dass Mädchen, die höher hinauf heiraten, schon bald teure Vorlieben entwickeln.«
Und so trank ich den bitteren, nutzlosen Tee und wartete. Obwohl es nicht meiner Natur entsprach, versuchte ich mich in Geduld zu üben. Ich sagte mir, dass es galt, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Man musste die Stellung des Mondes berücksichtigen, und gewiss hatten andere Frauen länger gewartet als ich. Es wäre auch nicht klug, wenn ich gleich nach meiner Ankunft in London erkrankte, denn es würde uns allen nichts nützen, wenn die Nachbarn Verdacht schöpften. Außerdem – und das war gewiss das Entscheidende – war ich von meiner Herrin als Dienstmagd eingestellt worden und wurde dementsprechend bezahlt. Die Vereinbarung lautete, dass ich ein ganzes Jahr lang in ihrem Haushalt bleiben sollte, unabhängig davon, was sonst noch unter ihrem Dach geschah. Mrs Black hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ein möglichst gutes Dienstmädchen aus mir machen wollte.
Der tägliche Ablauf meines neuen Lebens war strikt und gleichförmig. Jeden Morgen außer sonntags standen ich und Mary auf, wenn der Nachtwächter die sechste Stunde ausrief. Nachdem wir uns angekleidet und das Bett gemacht hatten, sperrte Mrs Black die Tür unserer Kammer auf. Sie vergewisserte sich, dass wir und das Zimmer ordentlich aussahen, fühlte uns den Puls und besah sich den Inhalt unserer Nachttöpfe, bevor sie uns nach unten ließ. Sie studierte die Kotklumpen, als wären es Teeblätter, und schwenkte sie mit konzentriertem Blick im Nachttopf. Mehrmals in den ersten Wochen musste ich meinen Nachttopf vor dem Arbeitszimmer des Apothekers abstellen, damit er dessen Inhalt noch genauer in Augenschein nehmen konnte. Sie wolle nicht, dass eines ihrer Mädchen krank werde, meinte Mrs Black streng. In einem Apothekerhaushalt würde dies keinen guten Eindruck machen. Deshalb beschnüffelte sie mich auch wie ein Hund, inspizierte meine Augen und Ohren und befahl mir, den Mund zu öffnen, damit sie meine Zähne zählen konnte. Einmal vermaß sie meine Stirn und meinen Schädelumfang und klopfte mir mit dem Bleistift fest an die Stirn, als ich nicht stillhielt.
Wenn diese Formalitäten erledigt und die Ergebnisse in das große Buch eingetragen waren, das Mrs Black eigens zu diesem Zweck angelegt hatte, half ich Mary bei den häuslichen Verrichtungen, während Mrs Black auf dem Markt die täglichen Einkäufe erledigte. Ich bemitleidete die armen Händler, die mit ihr feilschen mussten. Sie war zu keinerlei Kompromissen oder Zugeständnissen bereit. Natürlich nahm sie auch keine Rücksicht darauf, dass die Londoner Luft klebrig vor Ruß war, der alles mit einer schwarzen Schicht überzog, sodass man unablässig mit Putzen beschäftigt war. Nahm man einen Teller aus dem Regal, der eine Woche lang nicht benutzt worden war, hatte man auf der frischen Schürze und an den Fingern sofort Schmutzflecken. Und wenn die Herrin dies entdeckte, folgte eine strenge Strafe auf dem Fuß.
Die Hausarbeit war
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