Der Apotheker: Roman (German Edition)
Serviette war zerknüllt und voller Wein- und Bratensaftflecken. Tag für Tag spülte ich seine schmutzigen Teller, bürstete seinen Rock und seine Perücke, wusch seine abgetragenen weißen Socken. Morgens entdeckte ich manchmal Spuren, die darauf hindeuteten, dass er im Haus herumgewandert war, während wir schliefen. Ich roch den süßlichen Tabakduft, wenn ich den Teppich des Salons ausschüttelte, die verschrumpelten Reste der Orangenschale vom Feuerrost aufsammelte und mit einem Tuch den Fleck an der Wand über seinem Stuhl wegwischte, wo er gern den Kopf anlehnte. Oft, wenn ich im Bett lag, hörte ich ihn im Zimmer unter mir auf und ab gehen; seine Schritte zeichneten die Form einer liegenden Acht auf den lackierten Dielen nach, immer und immer wieder, und seine gepresste Stimme durchschnitt die Dunkelheit. Dann umklammerte ich meinen Hasenfuß noch fester und tadelte mich für meine lächerliche Angst.
Doch ich hatte ihn immer noch nicht zu Gesicht bekommen, und mein Unbehagen wuchs. Ich lugte um Türeingänge, und jeder Schatten ließ mich zusammenzucken. Denn es stimmte nicht ganz, dass es um meinen Herrn kein Geheimnis gab. An meinem allerersten Tag in der Swan Street, noch bevor meine Truhe ins Haus gebracht worden war, hatte mir Mrs Black eindringlich verboten, den Apotheker jemals direkt anzublicken oder angesichts seiner Erscheinung Überraschung oder Bestürzung zu zeigen. Wenn ich ihm jemals rein zufällig auf der Treppe begegnete, sollte ich die Augen zu Boden richten, sonst müsste ich mit einer harten Strafe rechnen. Um ihre Drohung zu untermauern, streifte sie das Kleid von Marys Schulter und zeigte mir mehrere blaurote Flecken auf ihrer blassen Haut.
Nach dem Grund für dieses Verbot wagte ich nicht zu fragen, fast als fürchtete ich den Geschmack der Frage in meinem Mund. Mein Herr war in dem Haus in der Swan Street so gegenwärtig und doch so unsichtbar wie Gott in der Kirche, nur dass Gott das einzig wahre Licht war, wie mir Mrs Black und der Pfarrer mit dem Frosch im Hals immer wieder versicherten. Mein Herr dagegen schien aus Finsternis und Schatten, aus verschlossenen Türen und fensterlosen Treppenaufgängen und dem sauren schwarzen Rauch erloschener Kerzen zu bestehen. Seine Unsichtbarkeit in diesem düsteren Haus hatte etwas Unerbittliches. Sie lauerte in den dunklen Winkeln jedes verschlossenen Zimmers, klebrig und hartnäckig wie Spinnweben.
Erst nach ganzen elf Tagen sah ich meinen Herrn zum ersten Mal. Ich wischte gerade die Treppe, als die Tür aufging und er ins Haus trat. Der Treppenabsatz lag im Dunkeln, er konnte mich nicht erkennen. Als er im Flur stehen blieb, um sein Bild im Spiegel zu betrachten, fiel ein staubiger Lichtstreif aus der Fensteröffnung über ihm auf seine Schultern und seinen Hut. Auf den ersten Blick sah er so durchschnittlich aus, dass es schon fast sonderbar war. Er war weder außergewöhnlich groß noch von besonders stattlichem Körperbau. Sein runder Hut entsprach der Art, wie man ihn oft bei Landgeistlichen sah. Er trug einen schwarzen Gehrock, ein steifes, aus der Form geratenes und vom Alter ganz grünliches Hemd sowie altmodische Schnallenschuhe mit breiten Kappen. Das Silber war fleckig, das Leder rissig. Seine Hemdmanschetten waren mit Tinte verschmiert. Der Gesamteindruck war gewöhnlich, ja trist. Unwillkürlich spürte ich so etwas wie Enttäuschung.
Dann drehte er sich zu mir um. Ich kniff die Augen zusammen, um ihn besser zu sehen. Meine Knie wurden weich, als er auf mich zukam. Ich drückte mich gegen die Wand und zwang mich, die Augen auf seine sich nähernden Schuhe gerichtet zu halten, mich auf den Schmutzspritzer an seinem Hosenbein zu konzentrieren, auf seine hellen Strümpfe, die auf dem Rist einen unförmigen grauen Fleck hatten, als hätte er sie verkehrt herum angezogen. Die hölzernen Absätze seiner Schuhe klangen hohl auf den Holzdielen. Wie aus weiter Ferne bemerkte ich sogar, dass eines der Dielenbretter lose war und festgenagelt werden musste. Beinahe hatte er den Fuß der Treppe erreicht. Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, aber ich bekam keine Luft, so groß war meine Beklemmung.
In meinen wildesten Fantasien hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass mein Herr kein Gesicht hatte.
Ich schloss die Augen, meine Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen, aber ich bekam das Bild nicht aus meinem Kopf: der runde Hut und darunter ein unsteter Schatten, eine leere Schwärze mit Löchern für die Augen unter
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