Der Apotheker: Roman (German Edition)
presste mir das Herz zusammen. Die Oberlippe bildete einen perfekten Bogen, fast wie mit Tusche nachgezogen, in der Mitte eine winzige Fleischperle. In diesem Augenblick befreite ich mich vom Schmerz meines geschundenen, blutigen Körpers. All mein Fühlen, all mein Sein lag in der Spitze meines Zeigefingers, die ganz sanft die raue Oberfläche dieser winzigen Fleischperle streifte. Es war nur ein Moment. Meine offene Handfläche verstärkte den Schrei des Säuglings – ein Schrei, heiß und drängend, sehr viel stärker als der Körper, aus dem er kam. Dann, urplötzlich, schloss sich der Mund gierig um meinen Finger. Der Schrei verstummte augenblicklich. Ich spürte das sanfte Kratzen der Blütenblattzunge an der Brandblase, die ich mir an dem kochenden Wasserkessel geholt hatte. Glattes Zahnfleisch umschloss meine Fingerspitze, als wollte es sie nie wieder loslassen. Mit allen Fasern seines Körpers schien sich das Geschöpf darauf zu konzentrieren. Sein Gesicht legte sich vor Anstrengung in Falten, seine Augen pressten sich bei jeder Saugbewegung des Mundes noch fester zusammen. Bei jeder Saugbewegung pulsierte auf dem mit Daunenhaar bedeckten Scheitel ein kreisrundes, pennygroßes Stück Fleisch. Während ich daraufstarrte, wurde ich selbst in den präzisen Takt des Babymundes einbezogen.
Das Zimmer um mich verblasste und wich zurück. Kein Schmerz, kein Rauch, kein Geruch nach Blut und Ausdünstungen mehr. Nur Finger, Mund und der Puls seines Saugens. Mehr bedurfte es nicht. Es war vollkommen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle stand Mrs Black, eine Schüssel mit frischem Wasser in der Hand. Als sie mich sah, stellte sie die Schüssel geräuschvoll auf den Hocker und riss den Säugling an sich. Sofort fing er an zu schreien.
»Mary!«, rief sie. »Komm sofort hierher!«
Ich betrachtete meinen gekrümmten Zeigefinger auf der Bettdecke, rings um den Nagel trocknete der Speichel. Mein Herz, aus dem Takt geraten, schlug verzweifelt bis zum Hals. Der Schrei des Säuglings drang mir in die Kehle und zerrte an meinem Bauch, an meinem Herzen.
»Nein«, sagte ich protestierend, aber meine Zunge war trocken und schwer, und das Wort blieb mir am Gaumen kleben. Verzweifelt fuhr ich mir über die Lippen. »Nein! Bitte!«
Auf der Treppe waren Marys Schritte zu hören.
»Nicht wach«, keuchte sie. »Mister Bla nicht wach. Auge zu.«
»Zum Donnerwetter, Mädchen«, fuhr Mrs Black sie an. »Muss ich denn alles selbst machen?«
Sie drängte sich an Mary vorbei die Treppe hinunter, mein Kind in den Armen. Im Stockwerk darunter hörte ich ein ungeduldiges Klopfen an der Tür des Arbeitszimmers.
Alles in mir wollte sie aufhalten. Ich fühlte mich krank, krank und beklommen vor Angst und Sehnsucht. Wie ich so in den zerknitterten, schmutzigen Tüchern lag und mein gebrochener Körper blutige Tränen weinte, tat sich zwischen meinen Rippen ein so gewaltiger Abgrund der Leere auf, dass ich glaubte, meine Knochen müssten brechen. Ungeachtet meiner Schmerzen, versuchte ich aufzustehen.
»Kommen Sie zurück!«, bat ich flehentlich.
Schweiß stand mir auf der Stirn. Den Oberkörper zusammengekrümmt, die Arme auf den Bauch gepresst, taumelte ich zur Tür. Doch meine Beine trugen mich nicht. Das Zimmer, voll glitzerndem Staub, begann gefährlich zu schwanken, der Boden kippte, und die Ecken verdrehten sich.
»Bitte! Ich flehe Sie an, geben Sie mir mein Kind zurück!«
Zumindest glaube ich, dass ich diese Worte gerufen habe. Etwas Heißes rann mir über die Oberschenkel, ich sah an mir hinunter und dachte, dass das Blut auf dem Boden unnatürlich rot sei. Mitten in der Pfütze lag ein dicker Klumpen wie rohe Leber, der auf den groben Dielen glänzte. Der Silberstaub vor meinen Augen verdichtete sich zu einem Schneesturm. Ich konnte die Tür nicht mehr erkennen. Mir war eiskalt. Meine Hände, bleich und fremd, tasteten zu meinem Gesicht.
Dann versagten mir die Knie, und ich stürzte zu Boden.
An die Tage, die folgten, kann ich mich kaum noch erinnern. Ich dämmerte dahin zwischen Schlafen und Wachen, verloren in der unerbittlichen Hitze des Fiebers und der Verzweiflung. Erst später erfuhr ich, dass der Apotheker verschwunden war. Wenn ich versuche, mir die Tage ins Gedächtnis zurückzurufen, bilde ich mir ein, ich hörte Türen klappern und einen heftigen Wortwechsel, aber die Erinnerungen daran sind skizzenhaft und trügerisch.
In den zwei Wochen, bevor ich mich aufsetzen und endlich baden
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