Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Jedes Gebiet richtete sich eigene ITLs und ITKs ein. Millionen von Stacheldrahtkilometern wurden gezogen, kreuz und quer durcheinander, fröhlich winkten und blitzten ihre Stacheln zu den vorbeifahrenden Zügen, den vorbeifahrenden Autos, den nahegelegenen städtischen Vororten hinüber. Und die häßlichen Mißgeburten von Lagertürmen wurden zu trefflichen Wahrzeichen unserer Landschaft, hatten es bloß einer wundersamen Fügung des Schicksals zu verdanken, daß sie nicht auf die Gemälde der Künstler, nicht vor das Objektiv der Filmemacher gerieten.
Wie schon seit dem Bürgerkrieg Brauch, wurden für die Lagerbedürfnisse im verstärkten Maße Klostergebäude mobilisiert, zumal sie sich ihrer Lage nach ganz vorzüglich für jede Art Isolation eigneten. Das Kloster der Heiligen Boris und Gleb in Torschok wurde in einen Durchgangspunkt umfunktioniert (und erfüllt noch heute diesen Dienst); ins Kloster am Waldai-See (am jenseitigen Ufer, vis-à-vis der späteren Schdanow-Datscha) kam eine Kolonie für Minderjährige; die Nil-Einsiedelei auf der Seliger-Insel Stolbiom wurde zum Lager gemacht, und die Sarowsche Einsiedelei zum Mittelpunkt der Potma-Lager, und so weiter und so fort ohne Ende. Lager entstanden im Donbass und an der oberen Wolga und desgleichen an der mittleren und der unteren und am Uralsüdrand und im Uralzentralgebiet und in Transkaukasien und in Mittelasien, in Mittelkasachstan, in Sibirien und im Fernen Osten. Nach amtlichen Angaben machte die Gesamtfläche der landwirtschaftlichen Kolonien der RSFSR im Jahr 1932 253 000 Hektar aus und jene der Ukraine 56 000 … Wenn wir jede Kolonie im Durchschnitt auf tausend Hektar taxieren, dann errechnen wir, daß es allein schon an landwirtschaftlichen Objekten, das heißt, an leichtesten, privilegiertesten Lagern (ohne die Randgebiete des Landes) mehr als dreihundert gab!
Auf dem Archipel geht das hartnäckige Gerücht um, die Lager seien von Frenkel erfunden worden.
Ich meine, daß dieses unpatriotische und die Sowjetmacht letztlich beleidigende Gerücht durch die vorangegangenen Kapitel ausreichend widerlegt wurde. Ich will hoffen, daß es uns trotz der bescheidenen Mittel gelungen ist, die Geburt der Unterdrückungs-und Arbeitslager eindeutig auf das Jahr 1918 zu fixieren. Ganz ohne Frenkels oder sonstwessen Hilfe war man daraufgekommen, daß die Häftlinge ihre Zeit nicht an moralische Betrachtungen verschwenden («die sowjetische Besserungsarbeitspolitik zielt keineswegs auf die individuelle Besserung in der herkömmlichen Bedeutung derselben ab»), sondern arbeiten sollten, mit Normen, die hart, fast unerreichbar sein mußten. Von Frenkel war weit und breit noch nichts zu sehen, als die Devise ausgegeben wurde: «Besserung durch Arbeit» (womit man seit Eichmann «Ausrottung durch Arbeit» meinte).
Und doch wurde Frenkel tatsächlich zum Nerv des Archipels. Er gehörte zu jenem Schlag erfolgreicher Männer, die von der Geschichte herbeigesehnt und herbeigelockt werden. Die Lager hat es vor Frenkel gegeben, gewiß, nur die Form, die endgültige und einheitliche, die schlechterdings vollendete – die war noch nicht gefunden. Jeder wahre Prophet kommt genau dann, wenn man seiner am dringlichsten bedarf. Frenkel erschien auf dem Archipel just als die Metastasenperiode begann.
Naftalij Aronowitsch Frenkel, ein türkischer Jude, wurde in Konstantinopel geboren. Er absolvierte eine Handelsschule und stieg ins Holzgeschäft ein, gründete in Mariupol eine Firma und war bald Millionär, der «Holzkönig des Schwarzen Meeres». Er besaß eigene Schiffe und eine eigene, in Mariupol erscheinende Zeitung, Die Kopeke, deren Auftrag darin bestand, die Konkurrenz anzuschwärzen und zu befehden. Während des Ersten Weltkriegs betrieb Frenkel finsteren Waffenschmuggel via Gallipoli. 1916 witterte er in Rußland Gefahr im Anzug, brachte sein Kapital noch vor der Februarrevolution in die Türkei, folgte ihm 1917 persönlich nach und ließ sich in Konstantinopel nieder.
Und hätte das süße und aufregende Leben eines Geschäftsmanns weiterführen können und nichts vom bitteren Leid erfahren müssen und nicht zur Legende zu werden brauchen. Aber es zog ihn mit fataler Gewalt ins Rote Reich. Unbestätigt ist das Gerücht, wonach er in jener Zeit in Konstantinopel Resident der sowjetischen Abwehr wurde (es ist nicht recht einzusehen, wozu er dies nötig gehabt hätte, es sei denn, er tat es aus Überzeugung). Fest steht indes, daß er während der NEP-Jahre in die
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