Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Beschwörungsformel war bekannt, sie lagen einem ja damit längst in den Ohren: «In der neuen Gesellschaftsordnung darf es weder die Disziplin des Stockes geben, auf der die Leibeigenschaft fußte, noch die Disziplin des Hungers, auf die sich der Kapitalismus stützt.»
Auf wunderbare Weise verstand es der Archipel, beides miteinander zu verbinden.
Das dafür nötige Instrumentarium war bescheiden: 1. Eine Kotlowka. 2. Eine Brigade. 3. Zwei Obrigkeiten.
Vom Fütterungsprinzip war bereits die Rede. Es ist die Methode, Brot und Graupen so zu verteilen, daß die Durchschnittsration, die einem beschäftigungslosen Häftling in der parasitären Gesellschaft zusteht, von unserem Sek erst erschuftet werden muß. Daß er Dampf dahinter machen muß, bis er, Stück für Stück und Gramm um Gramm, seine gesetzliche Futternorm beisammen hat und somit als Stoßbrigadler gelten darf. Wer die Norm zu mehr als hundert Prozent erfüllte, bekam einen (oder mehrere) Löffel Kascha dazu (von derselben Kascha, die sie einem zuvor entzogen hatten). Unbarmherzig war ihr Wissen um die menschliche Natur! Das zusätzliche Stück Brot, der ergatterte Schlag Grütze wog den Arbeitsaufwand nicht im entferntesten auf. Doch es ist eine ewige Kalamität, daß der Mensch eine Sache und ihren Preis nicht in Einklang zu bringen versteht. Wie ein Soldat, der im fremden Krieg wegen eines Schlucks billigen Wodkas aus dem Schützengraben steigt und im Sturmangriff sein Leben verliert, so ist auch der Sek bereit, um eines kümmerlichen Almosens willen, auf glitschigen Baumstämmen zu balancieren und ins Hochwasser eines nördlichen Flusses zu tauchen oder mit nackten Füßen den eisigen Schlamm für die Lehmziegel zu treten, egal, ob er seine Füße später für den Marsch in die Freiheit noch gebrauchen können wird.
Und auch die Brigade war erfunden. Mit Stock und Futtertrog die Brigade anfeuernd, hat der Brigadier ganz allein mit seinen Leuten fertig zu werden: ohne Obrigkeit, Aufseher und Wachen. Schalamow führt Beispiele von Brigadieren an, bei denen in einer einzigen Goldwasch-Saison mehrere Brigadekontingente ausstarben, nur er, der Brigadeführer, überlebte.
Die zweifache Obrigkeit ist in den Lagern grad so unentbehrlich wie der Zange ihre beiden Backen, die rechte und die linke. Die zwei Obrigkeiten sind der Hammer und der Amboß, zwischen denen der Sek zum Vorteil des Staates zurechtgeschmiedet wird – und wer dazwischen zerbröckelt, den werfen sie auf den Mist. Die zwei Obrigkeiten sind für den Sek zwei Peiniger, wo doch schon einer reichen würde; schichtweise zerren sie an ihm, gleichsam im Wettbewerb miteinander verstrickt: Wer preßt aus dem Häftling mehr heraus, wer steckt in den Häftling weniger hinein?
Wie auch sonst in unserer wohldurchdachten sozialen Ordnung gang und gäbe, stoßen hier zwei Plansolls heftig aufeinander: Der Produktionsplan strebt allerniedrigste Lohnkosten an, der MWD-Plan sieht größtmögliche Einkünfte aus dem Verleih der Arbeitskräfte vor. Einen uneingeweihten Beobachter nimmt es wunder, unverständlich ist ihm, daß Pläne ein und derselben Instanz miteinander konkurrieren. Er ahnt nicht, welch tiefer Sinn darin liegt. Denn just im Wettstreit der Plansolls wird der Mensch zermalmt. Ein Grundsatz ist es, der über den Stacheldraht des Archipels hinausreicht.
6
Die Ankunft der Faschisten
«Die Faschisten» – als Spitzname für die 58er (politische Gefangene) – wurde von den scharfäugigen Dieben eingeführt und von den Oberen mit Freude übernommen. Dieses Kapitel berichtet über die Ankunft der Seki in den Lagern im Jahre 1945, kurz nach der Kapitulation Japans.
7
Der Alltag der Archipelager
Es gibt, scheint’s, nichts Leichteres, als über das nach außenhin eintönige Leben der Archipelbewohner zu berichten. Aber gleichzeitig nichts Schwereres als das. Wie stets, wenn’s um Sitten geht, müßte man beim Morgen beginnen und beim nächsten Morgen enden, vom Winter bis zum Winter erzählen und von der Geburt (der Ankunft im ersten Lager) bis zum Tod (dem Tod). Und sie alle erfassen – alle Inseln und Inselchen zugleich.
Dies zu bewältigen, wird natürlich keinem gelingen, und ganze Bände zu lesen, wohl keiner die Geduld aufbringen.
Es setzt sich indes das Leben der Eingeborenen aus Arbeit, Arbeit, Arbeit zusammen; aus Hunger, Kälte und Gerissenheit. Diese Arbeit wird, so man nicht jemand anderen beiseite zu stoßen und im Warmen unterzuschlüpfen vermochte, die Allgemeine genannt,
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