Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
«entlassen». Es sah seltsam aus: Die Tore öffneten sich! Und für wen? Für Achtundfünfziger! Drei Jahre bestand Ekibastus bereits vordem – aber freigegeben war kein einziger Mann, hat ja auch keiner die Frist abgesessen. Nun, 1952, waren die ersten Kriegs-Zehner abgelaufen, bei jenen wenigen, die sie zu überleben vermochten.
Mit Ungeduld warteten wir auf ihre Briefe. Einige kamen an, direkt oder auf Umwegen geschickt. Wir erfuhren daraus, daß fast alle aus dem Lager in die Verbannung gebracht worden waren, obwohl in ihrem Urteil nichts von Verbannung gestanden hatte. Allein, es nahm niemanden wunder! Unseren Kerkermeistern war es ebenso klar wie uns, daß es nicht um Justiz, nicht um Fristen, nicht um Schriftstücke ging, sondern darum, daß uns die Macht, seitdem wir einmal Feinde genannt worden waren, bis zu unserem Tode treten, schinden und würgen wird: Das Recht des Stärkeren war auf ihrer Seite. Macht und Häftlinge hielten gleichermaßen dafür, daß dieses Verfahren das einzig normale sei, wir waren’s so gewohnt und haben uns dareingefunden.
Während der letzten Stalinschen Jahre war es nicht das Schicksal des Verbannten, welches Besorgnis erweckte, sondern das Los der Entlassenen, jener, die scheinbar unbewacht vors Lagertor traten, jener, die sich nun scheinbar der Schirmherrschaft des MWD entziehen durften. Hingegen bedeutete die Verbannung, die die Macht törichterweise als zusätzliche Strafe ansah, die Fortsetzung des gewohnten, verantwortungslosen Daseins, jenes fatalistischen Grundsatzes, dem der Häftling so unerschütterlich anhängt. Die Verbannung entledigte uns der Notwendigkeit, nach einem Wohnsitz zu suchen, und bewahrte uns somit vor schweren Zweifeln und Fehlern. Einen trefflicheren Ort als jenen, an den man uns verbannte, hätten wir nicht gefunden. Nur an diesem einen Ort, dem einzigen in der ganzen Union, konnte uns niemand vorhalten: Warum seid ihr denn hergekommen?
Obwohl wir also unter Bewachung aus dem Lager zogen, bemühten wir uns, dem Gefängnisaberglauben bis zum letzten zu genügen, nämlich uns nicht umzublicken (sonst kehrt einer dahin zurück) und die richtigen Verfügungen über unseren Gefängnislöffel zu treffen. (Wie aber verfuhr man richtig damit? Die einen meinten, man müsse ihn mitnehmen, um ihn nicht später holen zu müssen; die anderen rieten, ihn dem Gefängnis hinzuschleudern, damit es nicht nochmals nach dir greife. Ich hatte mir meinen Löffel selber gegossen und nahm ihn mit.)
Wir hielten vor dem Gefängnis – und es nahm uns ohne Antrittsfilzung und ohne Banja in Empfang. Die verfluchten Mauern, sie verloren ihre Härte. Wir verkrochen uns also mit Sack und Pack in den Zellen. In der Früh sperrte der Blockkommandant die Tür auf und ächzte: «Raustreten mit Sachen!»
Die Teufelskrallen lockerten den Griff …
Ein purpurroter Frühlingsmorgen umfing uns im Hof. Die aufgehende Sonne wärmte den Backstein der Gefängnismauern. Im Hof wartete ein Lastwagen, zwei Seki saßen bereits oben, unsere künftigen Weggefährten. Nun sollte man rasch Atem holen, sich umschauen und die Unwiederholbarkeit des Augenblicks genießen, aber sich die neue Bekanntschaft entgehen zu lassen, war unmöglich.
In der Früh wartet draußen ein Lastwagen; die gleichen Wachen, sie haben im Freien übernachtet, holen uns ab. Weitere sechzig Kilometer durch die Steppe. Der Lastwagen bleibt in nassen Mulden stecken, wir springen ab (früher, als Seki, war’s uns verboten) und schieben an, schieben ihn aus dem Schlamm, damit die abwechslungsreiche Reise nur möglichst schnell zu Ende gehe, damit wir möglichst schnell in die ewige Verbannung kommen. Die Soldaten stehen im Halbkreis und bewachen uns.
Kilometer um Kilometer fliegt die Steppe vorbei. So weit das Auge reicht, ist sie links und rechts mit stachligem, grauem, ungenießbarem Gras bewachsen, aus dem ganz selten mal ein poweres Dorf mit einer Handvoll Bäume auftaucht. Endlich zeigen sich vorn, über der Steppenrundung, die Wipfel weniger Pappeln. (Kok-Terek = «die grüne Pappel».)
Wir sind da! Der Lastwagen rast, von Staubwolken und einem Rudel wütender Köter begleitet, zwischen den Schilflehmhütten der Tschetschenen und Kasachen hindurch. Die freundlichen Maultiere mit ihren Wägelchen weichen zur Seite, aus einem der Höfe glotzt uns träge und verächtlich ein Kamel nach. Auch Menschen stehen herum, doch unsere Augen nehmen nur die Frauen wahr, die bestaunenswerten, vergessenen Frauen; dort die dunkle,
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