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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Schiffsverkehr und bat die Kommandantur, ihn zur Erkundung des Geländes fortzulassen. Sein Kommilitone aus der Marineschule und der Ausbildungszeit auf dem Segler «Towarischtsch», Kapitän Mann, rüstete zur gleichen Zeit für die Antarktisfahrt der «Ob»; Wassilenko wurde währenddessen zum Magazineur einer Bezirkskonsumgenossenschaft befördert.
    Doch nicht als Planer, Magazineur und Buchprüfer traten wir unser Amt an, fürs erste hieß es: Alle Mann an die Warenumwertung! In der Nacht vom 31. März auf den 1. April verfiel die Konsumgenossenschaft – alle Jahre von neuem – in Agonie, der Personalmangel war allweil akut und niemals voll zu decken. Die Aufgabe bestand darin, sämtliche Waren zu erfassen (und die diebischen Verkäufer zu ertappen, jedoch nicht, um sie dem Gericht anzuzeigen), die neuen Preise festzusetzen und am nächsten Morgen die selbigen Waren bereits zu den neuen, für die Werktätigen höchst günstigen Preisen feilzubieten. Nun hatte aber die riesige Wüste unseres Bezirks an Eisenbahnstrecken und Autostraßen null Kilometer aufzuweisen, so daß die für die Werktätigen so günstigen Preise in den entlegenen Geschäften frühestens am 1. Mai aktuell werden konnten: Diesen ganzen Monat, solange die Konsumgenossenschaft die Preislisten errechnete und bestätigte, solange sie dann mit Kamelen zugestellt wurden, blieben alle Läden schlicht und einfach geschlossen. Aber im Bezirkszentrum, der hiesigen Metropole, sollte der vorfeiertägliche Umsatz tunlichst gerettet werden.
    Bei unserem Eintreffen saßen bereits rund fünfzehn auf Dauer oder Abruf angestellte Rechner an den mit linnengroßen Preislisten bedeckten Tischen. Man hörte lediglich das Klappern der Kugeln auf den Rechenbrettern, mit deren Hilfe die erfahrenen Buchhalter sogar Multiplikationen und Divisionen vollbrachten, und da und dort geschäftiges Geplänkel. Ich war es rasch leid, auf einem Zettelchen zu rechnen und verlangte nach einer Maschine. Die Genossenschaft besaß keine, außerdem hätte auch niemand damit umzugehen verstanden, aber irgendwer erinnerte sich, im Schrank des lokalen statistischen Amtes solch ein Ding mit Ziffern gesehen zu haben, mit dem man dort ebensowenig etwas anzufangen wußte. Ein Telefonanruf, und das Gerät stand auf meinem Tisch, ich rasselte los, meine Zahlenkolonnen wuchsen rapid, und die leitenden Buchhalter schielten mich bald feindselig an: Wollte ich ihnen Konkurrenz machen?
    Ich aber kurbelte und dachte bei mir: Sieh mal, wie unverschämt ein Sek über Nacht wird oder, literarisch ausgedrückt, wie rasch doch die menschlichen Bedürfnisse wachsen! Ich war ungehalten, daß man mich nicht bei meinem Theaterstück in der finsteren Bude ließ; war ungehalten, daß man mich nicht in die Schule geholt; böse, daß man mich mit Gewalt hergebracht hat … was denn? steifgefrorene Erde zu schaufeln? im eisigen Wasser Schilfrohr zu treten? – nein, daß man mich mit Gewalt hinter einen sauberen Tisch gesetzt, mir die Kurbel einer Rechenmaschine in die Hand gedrückt hat. Ich mußte Zahlenkolonnen schreiben, ach, wie hätte ich gejubelt, wenn man mir am Anfang meiner Lagerhaft solch eine himmlische Arbeit angeboten hätte, ohne Lohn und zwölf Stunden am Tage und die ganze Frist hindurch! Hier zahlte man mir indes 450 Rubel dafür, ich werde mir fortan alle Tage einen Liter Milch leisten können – und rümpfte die Nase: Ob das Gehalt nicht zu mager war?
    Solcherart versank die Genossenschaft gut eine Woche in der Preissenkungsaktion (es mußte ja jede Ware in die richtige Kategorie hinsichtlich der allgemeinen Preissenkung eingeordnet, darüber hinaus aber ihre jeweilige Verteuerung für das Dorf berücksichtigt werden) – und immer noch durften die Geschäfte ihre Pforten nicht öffnen. Da versammelte uns der feiste Vorsitzende, selbst ein Nichtstuer ersten Ranges, in seinem feierlichen Arbeitszimmer und sagte: «Also so. Letzte Kenntnis der Medizin, daß Mensch nicht braucht acht Stunden schlafen. Genügt vollkommen vier! Darum ich befehle: Arbeitsbeginn – sieben Uhr früh, Arbeitsende – zwei Uhr nachts, Essenpause – eine Stunde zu Mittag, eine Stunde zu Abend.»
    Und es hat, so schien es, keiner von uns an dieser donnernden Tirade etwas zum Lachen gefunden, es war nur zum Gruseln. Alles duckte sich, schwieg, lediglich zu einer Debatte über den günstigsten Zeitpunkt der abendlichen Pause schwang man sich auf.
    Ja, so ist es, das Los eines Verbannten, wie man es mir vorhergesagt: Aus

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