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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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schwarzhaarige, sie beobachtet, die Hand über den Augen, von der Tür aus unser Auto; dort sind es gleich drei in rotscheckigen Kleidern. Keine Russin darunter zu sehen. «Macht nichts, noch warten Bräute auf uns!»
    Über der Straße, genau vis-à-vis vom MGB, steht ein eingeschossiges, jedoch hohes, gar wunderliches Gebäude: Vier dorische Säulen stützen gewissermaßen einen Scheinportikus, am Fuße der Säulen sind zwei imitierte Steinstufen und über all dem liegt ein altersschwarzes Strohdach. Mein Herz macht wider Willen einen Hüpfer: Es ist die Schule! Eine Mittelschule. Halt doch still und schweig, du Quälgeist: Dies Gebäude geht dich nichts an.
    Ein Mädchen geht geradewegs über die Straße, genau auf das ersehnte Schultor zu, ein Mädchen mit Locken, ein sauber herausgeputztes Mädchen, das Jackett um die wespenschlanke Taille geknöpft. Sie geht … Berührt sie überhaupt den Boden? … Eine Lehrerin ! Sie ist so jung, zu jung für ein Hochschuldiplom. Muß folglich sieben Klassen beendet haben und danach das pädagogische Technikum! Wie ich sie beneide! Welch ein Abgrund liegt zwischen ihr und mir, dem Hilfsarbeiter. Wir gehören verschiedenen Ständen an, und ich würde es niemals wagen, mit ihr Arm in Arm spazierenzugehen.

    Die Kommandanten entpuppen sich als zugängliche Burschen und erlauben uns, die Nacht nicht in dem abgesperrten Zimmer, sondern auf dem Heu im Hof zu verbringen.
    Eine Nacht unter freiem Himmel! Wir haben vergessen, was das bedeutet! … Immerzu Schlösser, immerzu Gitter, Mauern und ein Plafond überm Kopf.
    Der 3. März – aber es ist kein bißchen kälter geworden, die Luft ist fast sommerlich warm wie am Tag. Über dem weit ausgebreiteten Kok-Terek brüllen die Esel, langgezogen, leidenschaftlich, wieder und wieder; ihre Liebe ihr drängendes Verlangen teilen sie den Eselinnen mit, und wahrscheinlich sind die Antworten der Eselinnen ebenfalls in dieses Brüllen gemischt.
    Ich kann nicht schlafen. Und wandere, wandere, wandere unter dem Mond. Die Maultiere singen. Die Kamele singen. Und alles singt in mir: frei! ich bin frei!
    Endlich lege ich mich neben die Kameraden auf das Heu unter dem Vordach. Zwei Schritte vor uns stehen die Pferde an ihren Krippen und kauen die ganze Nacht lang friedlich ihr Futter. Und man hätte, so will mir scheinen, im ganzen Erdenrund nichts Trauteres als dieses Geräusch für unsere erste halbfreie Nacht erfinden können.
    Kaut nur, ihr Sanftmäuler! Kaut nur, ihr Pferdchen! …

    Am nächsten Tag gestattet man uns, Privatquartiere zu beziehen. Meiner Kapitalkraft entsprechend, mache ich einen Hühnerstall von Haus ausfindig, das ein einziges schwachsichtiges Fenster hat und so niedrig ist, daß ich sogar in der Mitte, wo sich das Dach am höchsten aufwölbt, nicht aufrecht stehen kann. «Eine niedrige Kate wünsch ich mir …», so habe ich einmal im Gefängnis von der Verbannung geschwärmt. Daß man den Kopf nicht heben kann, ist dennoch recht lästig. Aber stopp! – ein Haus für mich allein. Ein irdener Boden, leg die Lagerjoppe drauf und fertig ist das Bett. Nicht nötig: Ein mitverbannter Ingenieur, Alexander Klimentjewitsch Sdanjukewitsch, einst Professor am Moskauer Baumann-Institut, borgt mir ein paar Holzkisten, auf denen ich mich mit allem Komfort einrichte. Eine Petroleumlampe besitze ich noch nicht (nichts besitze ich, jedes nützliche Ding muß gewählt und gekauft werden, so als wärst du zum erstenmal auf der Welt) – doch ich bedaure es nicht einmal. All die Jahre in den Zellen und Baracken brannte uns das Anstaltslicht in die Seelen, jetzt fühle ich mich im Finstern glücklich und zufrieden. Auch die Dunkelheit kann zu einem Element der Freiheit werden!
    Was brauche ich mehr? …
    Allein, der Morgen des 6. März übertrifft alle denkbaren Wünsche! Meine Hausfrau, die aus Nowgorod verbannte Großmutter Tschadowa, raunt mir leise – laut es auszusprechen, fehlt ihr der Mut – die Nachricht zu:
    «Geh mal hören, was das Radio sagt. Die Leute reden was, ich trau’s mich nicht zu wiederholen.»
    Tatsächlich, das Radio ist wieder in Betrieb. Ich gehe zum Hauptplatz. Etwa zweihundert Menschen, eine Menge für Kok-Terek, drängen sich unter dem verhangenen Himmel rund um den Pfahl, an dem der Lautsprecher hängt. Ich kann die Worte des Sprechers noch nicht verstehen (seine Stimme überschlägt sich in dramatischer Theatralik) – aber etwas beginnt mir zu dämmern.
    Der Augenblick, den wir noch als Studenten

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