Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Prüfungstexte nicht vor den Schülern aufbrechen; ich mußte ins Lehrerzimmer und dort in Anwesenheit des versammelten Lehrkörpers, während er hinter meinem Rücken stand, die Aufgabe zunächst mal selber lösen. Daß das Ergebnis stimmte, versetzte ihn wie auch die übrigen Mathematiker in Jubelstimmung. Wie leicht gewann man hier den Ruf, ein Descartes zu sein! Noch wußte ich nicht, daß im Bezirksamt während der Abschlußprüfungen für die Unterstufe alljährlich das Telefon heißlief: Die Lehrer aus den Dörfern beklagten sich, daß die Aufgaben, wohl wegen eines Fehlers im Text, nicht zu lösen seien! Diese Lehrer hatten ja selber nur ganze sieben Klassen absolviert …)
Soll ich mein Glück beschreiben: Ich – in einer Klasse, die Kreide in der Hand! Das war er, der Tag meiner Befreiung, meiner Wiedereinsetzung in die Staatsbürgerrechte. Alles, was sonst noch zur Verbannung gehörte, bemerkte ich nicht mehr.
Als ich in Ekibastus war, wurde unsere Marschkolonne oft an der dortigen Schule vorbeigeführt. Sie winkte mir wie ein unerreichbares Paradies: Die herumtollenden Kinder im Schulhof, die hellen Kleider der Lehrerinnen; das schrille Läuten der Glocke über der Tür traf mich ins Herz. Ich war förmlich ausgelaugt durch die hoffnungslosen Gefängnisjahre, durch die allgemeinen Arbeiten im Lager! Ein höheres Glück schien es nicht zu geben als dieses, herzzerreißende: in dem öden Loch von Ekibastus als Verbannter zu leben, auf jenes Läuten hin mit dem Klassenbuch in der Hand vor die Kinder zu treten und mit geheimnisvoller, Überraschung verheißender Miene die Stunde zu beginnen. (In dieser Sehnsucht äußerte sich gewiß eine Berufung fürs Lehren, aber wohl ebenso ein wenig Verlangen nach Selbstbehauptung – als Kontrast zu den vielen Jahren der sklavischen Erniedrigung und der brachliegenden, weil von niemandem beanspruchten Fähigkeiten.)
Weil ich aber ins Räderwerk des Archipels und des Staates geraten war, ist mir etwas ganz Simples entgangen, die Tatsache nämlich, daß unsere Schule in den Kriegs-und Nachkriegsjahren – gestorben war, sie hatte aufgehört zu bestehen, geblieben war lediglich eine aufgeblähte Hülle, ein leerer Schall. Ob in der Hauptstadt, ob im Dorf, die Schule war tot. Wenn sich der geistige Tod wie Giftgas übers Land auszubreiten beginnt: Wie sollten darin nicht die Kinder, die Schule als erstes ersticken?
Allerdings erfuhr ich dies erst viele Jahre später, nachdem ich aus der Verbannung ins russische Mutterland zurückgekehrt war. In Kok-Terek dämmerte mir nicht mal was davon. Tödlich war gewiß die gesamte Richtung des Obskurantismus, aber die Kinder der Verbannten, die lebten noch, die waren noch nicht erstickt.
Es waren keine gewöhnlichen Kinder. Sie wuchsen mit dem Bewußtsein auf, unterdrückt zu sein. In den Lehrerkonferenzen und sonstigen Schwatzkränzchen hieß es, sie wären sowjetische Kinder, wie die anderen für den Kommunismus geboren und nur zeitweilig in ihrer Freizügigkeit beschränkt, mehr nicht. Doch von den Kindern selbst hat jedes sehr wohl die Hundekette gespürt, an der sie von Geburt an, solange sie sich erinnern konnten, hingen. Die ganze Welt draußen, die interessante, reiche, lebensvolle, jene in den Illustrierten, im Film, die war für sie unerreichbar; nicht mal die Knaben hatten eine Chance, durch den Wehrdienst hinauszugelangen. Eine sehr schwache, sehr seltene Hoffnung gab es, nämlich: von der Kommandantur einen Passierschein für die Stadt zu erbetteln, dort zu den Aufnahmeprüfungen zugelassen, dann auch noch in die Hochschule aufgenommen zu werden und schließlich diese glücklich zu absolvieren. Und so konnten sie alles, was über die ewige große Welt zu erfahren war, nur hier erfahren, in dieser Schule, die auf Jahre hinaus ihre erste und letzte Bildungsstätte blieb. Zudem waren sie, der Kargheit ihres Lebens in der Wüste wegen, von jenen Zerstreuungen und Vergnügungen unbelastet, an denen die städtische Jugend des 20. Jahrhunderts von London bis Alma-Ata so großen Schaden nimmt. Dort, im Mutterland, hatten die Kinder das Lernen bereits verlernt, den Geschmack daran verloren; zur Schule gingen sie wie in die Fron, bloß um irgendwo die Zeit bis zur Volljährigkeit abzusitzen. Für unsere Verbanntenkinder aber war die Schule, so man gut unterrichtete, das einzige, was im Leben zählte, sie bedeutete ihnen alles. Durch ihre Lerngier erhoben sie sich gleichsam über ihre Zweitrangigkeit und zogen mit den Kindern
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