Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
der ersten Sorte auf gleich. Einzig das wirkliche Lernen sättigte ihren Ehrgeiz.
(Nein, auch noch das: die ehrenamtlichen Schülerfunktionen, der Komsomol und, ab sechzehn, die Beteiligung an den allgemeinen Wahlen. Die Ärmsten, wie sehr sie sich wenigstens nach einer Illusion von Gleichberechtigung sehnten! Viele traten stolz dem Komsomol bei und hielten, ohne zu heucheln, politische Referate. Einer jungen Deutschen, Viktoria NUSS, die sich in die zweijährige Lehrerbildungsanstalt einschrieb, versuchte ich klarzumachen, daß man sich seines Verbanntseins nicht zu schämen braucht, vielmehr stolz darauf sein kann. I wo! Sie sah mich an, als wär ich irr. Na ja, gewiß, es gab auch solche, die es mit dem Komsomol nicht eilig hatten, die wurden mit Gewalt reingelotst: Man hat es euch erlaubt, warum zögert ihr noch? So kam es, daß in Kok-Terek einige deutsche Mädchen, die insgeheim einer Sekte angehörten, klein beigaben, damit ihre Familien nicht in die Wüste kamen. O ihr Kinderverführer! – ein Mühlstein um ’n Hals gebührt euch dafür …)
Dies alles gilt für die «russischen» Klassen der Kok-Tereker Schule (Russen im eigentlichen Sinne gab es fast keine darin, sondern Deutsche, Griechen, Koreaner, wenige Kurden und Tschetschenen und außerdem Ukrainer aus den um die Jahrhundertwende angesiedelten Familien, dazu noch einige Kasachen, Kinder von Funktionären, die ihren Sprößlingen eine russische Ausbildung geben wollten). Das Gros der kasachischen Kinder ging in die «kasachischen» Klassen. Es waren wahrhaftig noch kleine Wilde, in ihrer Mehrheit (sofern nicht durch die Dünkel beamteter Väter verdorben) – gradlinig, aufrichtig, mit handfesten Vorstellungen von Gut und Böse, solange man ihnen diese nicht durch den heuchlerischen oder hochnäsigen Unterricht erfolgreich austrieb. Bei alldem war der Unterricht in kasachischer Sprache nicht viel mehr als eine erweiterte Reproduktion von Unwissenheit: Anfangs war mit Ach und Weh die erste Generation bis zum Diplom durchgeschleust worden, die zogen nun, unausgelernt und wichtigtuend aus, um die nächsten zu unterrichten; die kasachischen Mädchen bekamen ein Befriedigend ins Zeugnis und durften sich, von jeglicher Bildung unbeleckt, fortan Schul-und Hochschulabsolventinnen nennen. Doch es brauchten diese Kinder aus der Urzeit nur mal echtes Wissen im Unterricht zu wittern, und sie saugten es ein, nicht mit den Ohren und Augen nur, sondern mit dem Mund.
Dieser Eifer der Kinder machte mich trunken, ich stürzte mich ins Unterrichten und war die drei Jahre in Kok-Terek (vielleicht hätten es auch mehr werden können) allein schon dadurch glücklich. Der Stundenplan reichte nicht aus, um alles Versäumte nachzuholen, ich gab zusätzlichen Unterricht am Abend, ging mit ihnen zu Übungen ins Gelände, machte astronomische Beobachtungen – und sie kamen so einträchtig und begeistert, wie sie nicht mal ins Kino zu gehen pflegten. Man bestellte mich auch noch zum Klassenlehrer, obendrein in einer rein kasachischen Klasse, aber auch daran fand ich beinahe Spaß.
Allerdings war alles Erfreuliche durch die Klassentür und die Schulglocke begrenzt; im Lehrerzimmer, beim Direktor und im Schulamt wurde das übliche gesamtstaatliche Stroh gedroschen, eine besonders gallige Sorte, weil ja das Land – ein Verbannungsland war. Unter den Lehrern hat es schon vor mir verbannte Deutsche und Verwaltungsverbannte gegeben. Wir waren unserem Status nach Unfreie, man ließ sich keine Gelegenheit entgehen, uns zu erinnern, daß wir gnadenweise zum Unterricht zugelassen seien und dieser Gnade jederzeit verlustig gehen konnten. Die Verbannten hatten mehr als die anderen, im übrigen auch nicht gar so unabhängigen Lehrer Angst, die hohen Bezirksnatschalniks durch eine schlechtere Benotung ihrer Sprößlinge zu vergrämen. Da die Direktion einen niedrigen Notendurchschnitt auch nicht sonderlich gern sah, mußten sich die Lehrer auch gegen diese Seite absichern und unverdient gute Noten in die Zeugnisse schreiben, damit nun ebenfalls die kasachische erweiterte Reproduktion von Unwissenheit fördernd. Außerdem waren die Verbannten (wie auch die jungen kasachischen Lehrer) zu besonderen Leistungen und Abgaben verpflichtet: An jedem Lohntag zog man ihnen, wer weiß, zu wessen Gunsten, fünfundzwanzig Rubel ab; der Direktor (Berdenow) konnte plötzlich verlautbaren, daß seine minderjährige Tochter Geburtstag habe, worauf die Lehrer je fünfzig Rubel für das Geschenk zu
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