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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Auszug. Macht nichts: Das Urteil blieb in Kraft, war ja bloß eine Kopie.
    Vera Kornejewa aber rechnete mit fünfzehn, wie groß dann ihre Freude, als sie auf dem Zettel nur fünf stehen sah. Sie begann zu lachen, ihr strahlendes Lachen, und beeilte sich zu unterschreiben, ehe sie’s ihr fortnahmen. Der Offizier stutzte: «Haben Sie auch richtig verstanden, was ich Ihnen vorgelesen habe?» – «Ja, ja, besten Dank! Fünf Jahre Besserungsarbeitslager!»
    Rózcas János, ein Ungar, bekam sein Zehnjahresurteil auf dem Gang vorgelesen, in Russisch und ohne Übersetzung. Er begriff nicht, daß das, was er unterschrieb, ein Urteil war, wartete noch lange auf die Gerichtsverhandlung, erinnerte sich viel später im Lager dumpf an den Vorfall, da ging’s ihm auf.)

    Die nirgendwo, weder in der Verfassung noch im Gesetzbuch, erwähnten OSOs erwiesen sich als handlichste Zerhackmaschine; anspruchslos und gefügig, bedurften sie keiner Gesetze zur Wartung. Das Strafgesetz war eine Sache, die OSOs eine andere, so rotierten sie denn flott, von den zweihundertfünf StGB-Paragraphen gänzlich unbelastet; die erwähnten sie auch nicht.
    Im Lager hatten sie dazu ein altes Sprichwort neugefaßt: «Gegen das Nichts gibt’s auch kein Gericht … nur den Sonderausschuß.»
    Natürlich brauchte er zu Bedienungszwecken irgendwelche kodierten Inputsignale, doch dafür hat er sich in eigener Regie die Buchstaben - Paragraphen erarbeitet, eine wesentliche Erleichterung für die betriebliche Manipulation (das Kopfzerbrechen um die Anpassung an die StGB-Formulierungen erübrigte sich), deren Gesamtzahl auch ein Kind leicht im Gedächtnis behalten konnte (ein Teil wurde von uns bereits erwähnt):

ASA
Antisowjetische Agitation
KRD
Konterrevolutionäre Tätigkeit
KRDT
Konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit (das winzige «T» erschwerte dem Sek das Leben im Lager um vieles)
PSch
Spionageverdacht (ein über den Verdacht hinausgehendes Spionieren wurde ans Tribunal weitergeleitet)
SWPSch
Beziehungen, die zum Spionageverdacht führen (!)
KRM
Konterrevolutionäres Denken
WAS
Ausbrütung antisowjetischer Stimmung
SOE
Sozialgefährliches Element
SWE
Sozial-schädliches Element
PD
Verbrecherische Tätigkeit (großzügig ausgeteilt an die ehemaligen Lager- Seki , wenn es gar keinen anderen Anwurf mehr gab)
Und schließlich das sehr voluminöse
TschS
Familienmitglied (desjenigen, der unter den vorherigen Buchstaben abgeurteilt worden war).
    Vergessen wir nicht, daß diese Buchstaben-Paragraphen keineswegs gleichmäßig über die Jahre und Menschen verstreut waren, sondern ähnlich wie die Strafparagraphen und Ukaspunkte als plötzliche Seuchen ausbrachen.
    Ein weiterer Vorbehalt ist der, daß die OSOs gar keinen Anspruch darauf erhoben, Urteile zu fällen. Sie urteilten nicht – sie verhängten Verwaltungsstrafen, sonst nichts! Die juristische Ungebundenheit erscheint demnach durchaus einleuchtend.
    Doch obwohl die Verwaltungsstrafe nicht beanspruchte, ein Gerichtsurteil zu werden, konnte sie fünfundzwanzig Jahre betragen und folgendes einschließen:
den Verlust aller Dienstgrade und Auszeichnungen;
die Einziehung des gesamten Vermögens;
die Strafverbüßung im Kerker;
das Briefverbot;
    und es verschwand ein Mensch in der Versenkung, wie’s ein primitiver Gerichtsbeschluß nie sicherer bewerkstelligt hätte.
    Ein wichtiger Vorzug des OSO lag auch noch darin, daß es gegen seine Beschlüsse keine Berufung gab – es war niemand zum Anrufen da: keine Instanz über dem OSO und keine darunter. Er unterstand niemandem als dem Innenminister, Stalin und Luzifer.
    Von nicht geringem Wert war auch die Schnelligkeit des OSO: sie wurde lediglich durch die Tippgeschwindigkeit in Grenzen gehalten.
    Und schließlich kam der OSO ohne persönliche Vorführung des Angeklagten aus (somit den in-und externen Gefängnisverkehr entlastend), sie benötigten nicht einmal sein Foto. In Zeiten der intensiven Gefängnisbeschickung boten die OSOs auch noch dadurch einen Vorteil, daß der Gefangene nach Beendigung der Untersuchung sofort ins Lager abgeschoben werden konnte: statt jemand anderem den Platz auf dem Zellenboden wegzunehmen, verdiente er sich dort durch ehrliche Arbeit sein Brot. Die Durchschrift des Auszugs konnte er immer noch irgendwann später lesen.
    Eine Hecke von Auslegungen, Nachträgen und Instruktionen umrankt einen jeden StGB-Paragraphen. Wenn die Straftaten des Angeklagten durch Gesetze nicht zu erfassen sind, kann er immer noch verurteilt

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