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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Herz ohne Bange: Sorglos glitten wir all die fünfzehn Jahre dahin, weil des Schutzes des gesetzlichen Revolutionsgeistes und der revolutionären Gesetzlichkeit gewiß. Fortan aber wird es schmerzlicher sein: Wie dem Leser erinnerlich, wie uns zehnfach, mit Chruschtschow beginnend, erklärt, setzte «etwa um 1934» «die Verletzung der Leninschen Normen der Gesetzlichkeit» ein.
    Und wie jetzt in diesen Abgrund der Gesetzlosigkeit hinabsteigen? Woher die Kraft nehmen, auch noch diesen bitteren Sumpf zu durchwaten?
    Außerdem gerieten die nächsten Prozesse dank ihrer prominenten Angeklagten ins Blickfeld der Welt. Diese Prozesse übersah man nicht, man schrieb darüber, deutete und klärte. Und wird es noch lange tun. Uns bleibt nur einiges über das Rätsel zu sagen.
    Zunächst eine Einschränkung, wiewohl am Rande: Die veröffentlichten stenographischen Berichte decken sich nicht vollkommen mit dem bei dem Prozeß Gesagten. Ein Schriftsteller, Passierscheinbesitzer und somit zum ausgewählten Publikum gehörig, hatte sich flüchtig Notizen gemacht und war dadurch auf die Unstimmigkeiten gestoßen. Auch die kurze Panne mit Krestinski, als eine Pause eingelegt werden mußte, um ihn auf die rechte Bahn der vorgegebenen Aussagen zurückzuführen, war von den Korrespondenten nicht unbemerkt geblieben. (Ich stelle mir das so vor: Zu Prozeßbeginn wurde ein schriftlicher Notstandsplan erstellt. Man hatte ein Blatt Papier mit drei Rubriken; in der ersten stand der Name des Angeklagten, in der zweiten das bei ihm im Falle einer erfolgten Textabweichung anzuwendende Mittel, in der dritten der Name des für dieses Mittel zuständigen Tschekisten. Und fällt dann ein Krestinski tatsächlich aus der Rolle, weiß man sofort Bescheid.)
    Doch die Ungenauigkeit des Stenogramms kann am Bild nichts ändern und nichts entschuldigen. Die Welt ließ staunend drei Stücke über sich ergehen, drei kostspielige Monsteraufführungen, bei denen führende Köpfe der furchtlosen Kommunistischen Partei, jener, die einst die Welt veränderte und in Schrecken versetzte, als jämmerliche gefügige Schafe über die Bühne stolperten und alles herausblökten, was ihnen eingetrichtert wurde, und sich selbst bespien und in sklavischer Unterwürfigkeit in den Schmutz zogen und Verbrechen gestanden, die sie unmöglich begangen haben konnten.
    Es hatte so etwas in der erinnerbaren Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben. Es frappierte so was besonders, wenn man sich den nicht lange zurückliegenden Dimitroff-Prozeß in Leipzig vor Augen hielt: Wie ein gereizter Löwe hatte Dimitroff die Nazirichter angefahren, und hier? Hier saßen seine Genossen aus derselben unbeugsamen furchteinflößenden Kohorte, und nicht irgendwer, sondern die bedeutendsten, die man die «Leninsche Garde» nannte, hier saßen sie vor den Richtern, vom eigenen Urin übergossen.
    Und obwohl man meinen könnte, daß seither vieles erklärt worden ist (am treffendsten durch Arthur Koestler), ist das so gängige Geheimnis noch immer im Umlauf.
    Hier war mal was über ein tibetisches, den Willen lähmendes Kraut zu lesen, dort über die Anwendung der Hypnose. Mitnichten sollen diese Erkärungen samt und sonders von der Hand gewiesen werden: Falls die NKWD solche Mittel besaß, war’s nicht einzusehen, welche moralischen Normen sie an ihrer Anwendung hätten hindern können. Warum denn nicht den Willen schwächen und vernebeln? Daß viele bekannte Hypnotiseure in den zwanziger Jahren ihre Gastspiele einstellten und in den Dienst der GPU traten, ist ein offenes Geheimnis. Unbedingt zuverlässig ist der Bericht, wonach die NKWD in den dreißiger Jahren eine Schule für Hypnotiseure unterhielt. Kamenews Frau durfte ihren Mann kurz vor dem Prozeß besuchen, sie fand ihn stumpf, träge, sich selbst nicht mehr ähnlich. (Sie konnte es gerade noch weitererzählen, bevor sie selbst verhaftet wurde.)
    Und Paltschinski oder Chrennikow? Warum hat das tibetische Kraut mitsamt der Hypnose an ihnen versagt?
    O nein, ohne eine höhere, eine psychologische Erklärung kommen wir hier nicht aus.
    Vielen scheint das Rätsel vor allem darin zu liegen, daß es samt und sonders alte Revolutionäre waren, jeder ein gestählter, gesottener, ausgepichter usw. Kämpfer, jeder mit harter zaristischer Kerkererfahrung hinter sich. Hierin liegt jedoch ein einfacher Fehler. Es waren nicht diejenigen alten Revolutionäre, die …, es waren nur die Erben eines fremden, von den benachbarten Narodniki,

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