Der Architekt
Als Götz sich auf ihn stürzte, rollte Ben sich rasch zur Seite, riss beide Hände, zu einer Keule verwachsen, empor und hieb mit aller Kraft auf den Rücken des Mannes, der an ihm vorbeigeschossen war.
Götz schwang herum, die Seiten seines Jacketts flogen. An der Innentasche des Futters blitzte es auf. Instinktiv griff Ben danach und wusste, dass er eine gefährliche Waffe gepackt hatte. Schräg über sich sah er das kantige Gesicht von Götz vorbeiziehen. Dann hatte er den stählernen Kugelschreiber in der Faust, das spitze Ende schaute ein paar Zentimeter daraus hervor. Ben drehte sich um sich selbst, stieß den Arm dabei nach vorn, fühlte, wie sein Handballen auf einen weichen Widerstand traf und etwas Warmes darunter hervorsickerte.
Es war, als ob Götz der innere Halt durchgeknipst worden wäre. Ben riss den Stahlkugelschreiber, der schlank und robust war wie ein riesiger Nagel, aus der Bauchdecke wieder heraus. Götz’ Kopf hatte sich nach unten gesenkt, er presste die Hände auf den Bauchnabel. Bens Knie raste nach oben. Er sah, wie das Gesicht des anderen an ihm vorbeiflog, die Augäpfel tief unter die Lider geschoben, der Mund verwischt, offen. Dann drang die silbrig glänzende Spitze des Kugelschreibers erneut ein. Von der Seite aus hatte Ben den mörderischen Stachel mit aller Kraft in Götz’ Hals getrieben, als er nach hinten getaumelt war. Die Wucht des Schlages war so groß, dass das Fleisch unter dem Stift aufplatzte. Blut schoss hervor und ergoss sich über Bens Arm, troff herunter bis zum Ellbogen. Ben versuchte, den Schwung seines Schlags abzubremsen, um nicht selbst zu Boden zu gehen, sah, wie Götz nach hinten wankte, gegen die Wand der Kammer prallte.
Ist dir das heiß genug, Sophie?, waberte es wie in Zeitlupe durch Bens Hirn. Es ist keine Geschichte, die ich mir ausdenke, keine Berechnung, kein Kalkül, keine Lüge. Es ist jetzt und wirklich, und ich bin es, der es tut. Aber er dachte schon nicht mehr klar. Der Stift fiel ihm aus der Hand, er stützte sich an der Türfüllung ab, taumelte gegen die Wand des Gangs draußen. Durch die Tür, die auf das Sims und ins Freie führte, konnte er überhell die Außenwand des Hauses und den Garten sehen.
Als er herausstolperte, schien die Sonne. Benommen blieb Ben stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in das Licht.
88
Es war wieder alles wie beim ersten Mal.
Mia hatte das Innenhaus gefunden. Zwei Tage lang hatte sie gesucht, dann hatte sie die Hochhäuser wiedererkannt, die ihr aufgefallen waren, bevor Marcos BMW die Rampe heruntergerollt war.
Als sie in dem heruntergekommenen Treppenhaus vor der Tür gestanden hatte, hatte sie jedoch gezögert. Jetzt sollte sie losgehen und sich stellen? Und wenn sich hinter der Tür gar nichts befand? Es war ihr alles unendlich fremd vorgekommen. Sie hatte den Klingelknopf gedrückt und war durch die Tür hindurchgegangen, als diese sich geöffnet hatte.
Hier würde man sie nicht finden. Hier würde man sie für das, was sie Vera angetan hatte, nicht belangen.
89
Das entfernte Dröhnen der Musik. Die künstliche Luft. Die Gänge, die Menschen, das heruntergedimmte Licht.
In einer Nische hinter der Garderobe hatte sich Mia zusammengekauert. Sie würde nie mehr herauskommen aus diesem Schlund. Die Betonwand, an der sie lehnte, wurde von den schweren Bässen der Musik in ein kaum wahrnehmbares Zittern versetzt.
Mias Hände ruhten auf ihren Knien, die Stirn auf den Unterarmen. Ihr Blick wanderte zwischen den Beinen hindurch auf den Boden. Ein schwarzes Viereck, das ganz von ihr umschlossen wurde. Ein Viereck, in dem sie bei sich selbst war. Ihre Schultern bebten. Es war die nackte Verzweiflung.
Mia starrte ins Leere, aber die Mutlosigkeit wich nicht von ihr, rückte nur noch näher an sie heran, kroch in ihren Körper. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Dumpf spürte sie, dass sich jemand neben sie hockte, an sie kuschelte und ihr einen Arm um die Schultern legte. Ein Gesicht vergrub sich an ihrem Hals.
»Wir schaffen das«, hörte Mia ein Stimmchen flüstern. »Wir kommen hier raus, wir bleiben zusammen.«
Die Tränen strömten aus Mia heraus. Sie war wieder bei ihr. Sie hatte Dunja nicht verloren.
90
Acht Monate nach der Freilassung von Julian Götz
Es war nicht der gleiche Saal, aber es war im Kriminalgericht Moabit. Ein anderer Richter, ein anderer Staatsanwalt, andere Verteidiger.
Eine andere Perspektive.
Näher dran. Tiefer drin.
Ben hatte sich auf seinem Stuhl
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