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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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uns – bei allen Differenzen – doch
einig
sein müssten. Was ich nicht verstehen kann, ist, wie Sie sich, ohne zu zögern, darüber hinwegsetzen können, dass ich – abgesehen von der Bestürzung über den Tod meiner Frau –
zutiefst
um meine beiden Töchter Pia und Svenja trauere!«
    Ben spürte, wie eine Welle der Bewegung durch die Zuschauerbank ging.
    »Soweit ich weiß, haben Sie selbst Kinder, Herr Hohlbeck, und deshalb begreife ich nicht, wie Sie die Augen davor verschließen können, dass ich über den Tod meiner beiden Töchter niemals hinwegkommen werde! Ich begreife nicht, wie Sie ignorieren können, dass ich im Grunde genommen seit dem Moment, in dem meine beiden Töchter der Welt entrissen wurden, selbst nicht mehr zu ihr gehöre. Dass mich das Gefühl, ihren Tod verschuldet zu haben, weil ich nicht genug auf sie aufgepasst habe, keine Sekunde mehr verlassen hat. Dieses Gefühl ist es, das den Prozess, den Sie mir hier machen, unerträglich macht. Und ich verstehe nicht, wie Sie die Wahrheit dieses Gefühls, die Wahrheit meiner Bestürzung über den Tod meiner Töchter, verkennen können!«

11
    Es war der Geruch nach Rindfleisch, der ihr am meisten zu schaffen machte. Das Fleisch war nicht einmal alt, geschweige denn faul. Ihre Mutter hatte es mit Sicherheit erst gestern oder vielleicht am Tag davor gekauft. Es lag einfach in der Pfanne und schmurgelte vor sich hin – aber der Geruch, der davon aufstieg, hatte für Mia etwas von Tod, Aas und Verwesung.
    Sie hatte sich zurückbringen lassen. Plötzlich hatte sie es in dem Kleiderladen nicht mehr ausgehalten. Marco, Dunjas Freund, der den Wagen fuhr, hatte versucht, ihr klarzumachen, dass sie großartig aussehen würde, dass sie sich keine Sorgen machen müsse, dass es lustig werden, ihr gefallen würde. Aber etwas hatte ihr keine Ruhe gelassen, und sie wusste nicht einmal genau, was es war.
    Ihre Mutter rührte mit einem hölzernen Löffel in der Pfanne.
    Mia versuchte, nicht an den Geruch zu denken. Sie sehnte sich nach einem Salat, vielleicht ein wenig Gemüse. Stattdessen glitzerte das Fleisch in dem fingerdicken Fett in der Pfanne, der schwere Geruch erfüllte die ganze Küche, strich über ihre Haare. Ein Fettspritzer war auf der Hand ihrer Mutter gelandet, er schimmerte im Licht der Küchenlampe, aber ihre Mutter schien ihn nicht zu bemerken.
    Warum hatten sie nicht mit ihr geschimpft, Dunja und Marco, als sie sie nach Hause gefahren hatten? Warum hatten sie sich nicht beschwert, dass sie ihretwegen nun die ganze Reise umsonst gemacht hätten? Warum hatten sie nur die Schultern gezuckt?
    Mia setzte sich an den Küchentisch, legte die Arme auf das frisch abgewischte, noch feuchte Wachstuch und ließ den Blick aus dem Fenster wandern. Der Himmel hatte sich bezogen, tiefgrau und schwer hing er über den Wohntürmen. Die hellblaue Farbe der entfernten Hochhäuser schien dunkler geworden zu sein, das Weiß wirkte schmutzig, die Balkone, die erst vor kurzem in unterschiedlichen Farben getüncht worden waren, verschwammen zu einem unregelmäßigen Braunton.
    Ihre Mutter stand breitbeinig vor dem Herd und schien einen Moment ganz in sich versunken. Ihre Schultern waren ein wenig nach vorn gesackt, eine Hand hatte sie in die Tasche der Schürze versenkt, die andere hing schlaff herunter.
    »Mama, ich … als wir vorhin in Berlin waren –«
    Ihre Mutter fuhr herum. Die Augen aufgerissen, die Hand im Haar. Hatte sie den Fettspritzer jetzt dort abgewischt?
    »Ich wollte dich das doch mal fragen«, fuhr Mia fort, wurde von ihrer Mutter aber unterbrochen.
    »Ja? Ja? Endlich sprichst du darüber. Ich verstehe das gar nicht, Mia. Wieso sagst du mir nicht, wenn du gehst?«
    Ihre Augen schienen überall in der Küche umherzuzucken, sich jedoch auf Mias Gesicht nicht einstellen zu können. »Wie heißt er denn, Dunjas Freund?«
    »Marco?«
    »Und?« Die Mutter starrte sie an.
    Was sollte sie ihr sagen? »Wenn du gleich wieder so anfängst«, hob Mia an. Sag es ihr doch einfach, gurgelte es in ihrem Kopf, zick nicht lange rum.
    »Wie denn, wie fange ich an?« Der Blick ihrer Mutter trübte sich ein. Sie senkte die Stimme. »Mia …« Sie brach ab, zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, setzte sich. »Mia, ich verstehe das nicht, ich weiß nicht, wie ich mit dir reden soll. Ich will ja nichts falsch machen, ich will dir auch nichts sagen … du bist alt genug jetzt. Es tut mir leid, wenn ich nicht immer alles richtig gemacht habe …«
    Mia spürte,

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