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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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lag ein Baumstamm quer auf dem Boden. Er musste den Parkarbeitern zu schwer gewesen sein, so dass sie ihn nicht beiseitegeräumt hatten. Als Ben sich darauf niederließ, hatte er das Gefühl, den richtigen Ort gefunden zu haben, um sich zu sammeln. Hier konnten sie ihn nicht finden. Hier konnte er ungestört bis zum Morgen bleiben. Er nahm den Stamm zwischen die Beine und legte sich vorsichtig auf den Rücken. Die Rinde drückte durch den Mantel gegen seine Wirbelsäule, aber das störte ihn nicht. Das Gefühl, dass ihn hier kein Anruf, kein Besuch, keine Überraschung einholen konnte, war überwältigend. Und für einen Augenblick war das, was ihn durchströmte, nichts anderes als reines Glück.

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    Als er erwachte, war sein Gesicht nass. Es hatte zu nieseln begonnen. Ben schreckte hoch, wischte sich über die Augen und fühlte, wie ihm seine Haare feucht in die Stirn hingen.
    Im gleichen Augenblick wusste er es. Es lief wie ein Film vor ihm ab. Er sah, wie er sie mit beiden Armen an sich presste, sie war viel zu schwach, um sich zu wehren. Er hörte das Quälende in ihrer Stimme, er spürte ihre Arme, die sich so zart wie die Fühler eines Schmetterlings gegen ihn drückten. Er lief mit ihr an der Treppe vorbei. Er sah, wie seine Hand ihre Schulter umklammerte. Sah, wie er die Tür zum Kinderzimmer durchschritt. Wie er sie aus seinen Armen herausfallen ließ, ihr Kopf abknickte, als sie auf den Boden aufschlug. Er sah, wie ihr Auge aufblitzte, aber das, was ihn daraus ansprang, war keine Angst mehr, kein Versuch, sich zur Wehr zu setzen, der Flucht, des Aufbegehrens – es war die Sicherheit, den Mächten nicht gewachsen zu sein. Aus ihrem Mund kam kein Schrei, sondern ein unterdrücktes Jaulen, ein Ton, der an ein Tier erinnerte, das spürte, den Druck, der auf ihm lastete, nicht mehr aushalten zu können. Es war der Ton des Todes, als hätte der Abgrund, der sie verschlang, eine eigene Stimme gewonnen.
    Bens Hand, die die Schere umklammerte, ragte steil in die Luft. Er riss sie noch weiter zurück – bis zu dem Punkt, an dem er dem Muskel befahl, sich zusammenzuziehen, und die Bewegung sich umkehrte. Jetzt flog die Spitze dem Boden entgegen, direkt auf das Kind zu, das vor ihm auf dem Teppich lag, das jaulte, die kleinen Hände schlaff neben sich, statt sie als Schutz vor sich zu halten. Ben spürte, wie er ein wenig in die Hocke ging, um von der Wucht des eigenen Hiebs nicht umgerissen zu werden. Wie seine Beinmuskeln sich anspannten, die Schere an seiner Wange vorbeischoss und das spitze Metall das verletzliche Fleisch des Wesens vor ihm durchteilte, regelrecht durch es hindurchzufliegen schien, bevor es mit einem metallischen Klang in den Boden einschlug. Es war, als hätte sich ein Filter vor seine Augen geschoben wie ein stampfendes Flackern. Dann ließ er die Schere zu Boden fallen. Die Wucht, mit der sie auf Svenjas zerbrechlichen Körper niedergegangen war, schien minutenlang in seinen Muskeln nachzuhallen.
    Aber er war noch nicht fertig. Nebenan lag Pia. Sie hatte es nicht gewagt, an die Tür zu kommen, aber er wusste, dass sie alles gehört haben musste. Schwarz wie ein Abgrund gähnte ihr Zimmer ihm entgegen, als er in der Türöffnung stand. Er konnte sie leise atmen hören. Aber es war nicht das Atmen des Schlafs, sondern das Atmen der Angst.
    Er war es gewesen. Er hatte die Lampe geholt. Er war an ihr Bett getreten. Sie hatte die Augen geschlossen, wie um nicht zu sehen, was geschah. Und doch hatte sie gewusst, dass es das Ende war, auch wenn sie erst sechs Jahre alt war. Er hatte mit dem schweren Messingständer zugeschlagen, es war so einfach gewesen, wie einem Vogel die Flügel zu brechen.
    Ben saß auf dem Baumstamm, und der Regen prasselte auf seinen Mantel. Seine Arme hingen an ihm herunter, das Wasser rann an den Haarsträhnen entlang über die Wangen und tropfte vom Kinn auf die Erde.
    Er sah seine Schuhe vor sich, die schwarz glänzten und vollkommen durchtränkt waren, genauso wie seine Hosen.
    Er war wieder in Pias Zimmer und fühlte das Leben aus ihrem winzigen Körper entweichen. Er hatte sie getötet. Das war es, was ihn zu diesem Prozess getrieben hatte. Er war der Mörder, der das Leben dieser beiden Kinder aus ihren zerbrechlichen Körpern gerissen hatte. So wie er es aus Lillian herausgeschnitten hatte.

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    Das Papier war vollkommen durchweicht. Es war das Ergebnis der Agentur, die den DNA -Test durchgeführt hatte. Der Kurier hatte das Kuvert an die Tür gesteckt, als er Ben

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