Der Architekt
würde. In dem er mit seiner Schuld allein bleiben würde. In dem er sich zugrunde richten würde.
68
Sie starrte auf die Tür. Glatt, weiß und schmal. Wie der ganze Raum, der wirkte wie eine aufrecht hingestellte Schachtel. »Ein Hochkantraum«, musste Mia unwillkürlich denken. Es gab flache, breite, ausgedehnte Räume wie Ebenen in einer Tiefgarage – und es gab Hochkanträume, bei denen die Höhe überproportional zur Breite ausgefallen war, deren Dimensionen eher an Aktenordner erinnerten. In so einem Raum befand sie sich.
Keine entfernte Maschine, die summte, geschweige denn Musik, Schritte oder Stimmengewirr. Aus einem Schacht, dessen Ende sie in der oberen Ecke des Raums sehen konnte, drang etwas, das Mia für das Gezwitscher von Vögeln hielt, und das Rauschen der Blätter eines Baumes. An der Wand ein Tischchen, ein zierliches Regal mit ein paar Büchern, ein Bett aus schönem Holz.
Wo war sie?
Vera war bei ihr gewesen, erinnerte sie sich, bei ihr in dem Betonlabyrinth. »Willst du wirklich hier weg?«, hatte Vera gefragt, und Mia hatte genickt. Später war Vera gegangen und Mia eingeschlafen. Sie musste betäubt worden sein. Man hatte sie hierhergebracht, während sie betäubt gewesen war.
Vera hatte ihr geholfen, sie hatte ihr Versprechen gehalten. Sie hatte sie herausgebracht aus dem Labyrinth!
Mia sprang auf, die Bettdecke flog zu Boden. Schon landeten ihre nackten Füße auf dem Flachsstoff, mit dem er ausgelegt war.
»Vera?«
Sie rannte zur Tür. »Wo bist du, ich bin’s, Mia!« Ich liebe dich, schoss es ihr durch den Kopf, als sie die Klinke herunterdrückte. Eine Feder knirschte im Inneren des Schlosses, aber die Tür rührte sich nicht. Mia verlagerte ihr Gewicht nach hinten, zog an der Klinke. Die Tür blockierte. Erneut drückte sie die Klinke mit aller Kraft herunter, bis es in ihrer Hand knackte, und rammte die Schulter gegen die Tür.
Das Licht, das gerade erst so hell, strahlend, ja glühend zwischen ihren Augen zu brennen begonnen hatte, erlosch mit einem Zischen. Die Tür war verschlossen. Sie war nicht draußen – sie war nur woanders.
69
»Der Abend bei Lillian, es ist alles verschwommen.« Ben lehnte mit dem Rücken gegen das Sofa, die Beine auf dem Boden ausgestreckt, Sophie hatte ihm ein Sweatshirt und Jogginghosen geborgt.
Was war geschehen an dem Abend, den er bei Lillian verbracht hatte? Was war geschehen an jenem 25 . September, an dem die beiden Mädchen und Christine ermordet worden waren? Was hatte er an jenem Abend getan? Der ganze vergangene Herbst schien zu einem grauen Gemenge von Stunden und Tagen zu verschwimmen, die er am Schreibtisch zugebracht hatte. Monate, in denen er versucht hatte, ein Drehbuch, ein Treatment oder auch nur eine Ideenskizze zusammenzubekommen.
»Sie werden es klären«, hörte er Sophie sagen.
Sie hatte recht. Er musste sich stellen, musste dafür sorgen, dass endlich Klarheit geschaffen wurde.
Er konnte sich gut daran erinnern, dass Georg ihm für sein Banküberfall-Skript Unterlagen über den Bau von Banken zur Verfügung gestellt hatte. War wirklich ein Bau von Julian Götz darunter gewesen? Und wenn ja, wie war es dann möglich, dass er zu dem Prozess gegen Götz in der festen Überzeugung gegangen war, von dem Mann noch nie zuvor gehört zu haben?
»Und wenn ich in etwas hineingezogen werden soll, mit dem ich eigentlich gar nichts zu tun habe?« Er schaute auf.
»Von wem, Ben?«
»Von Götz, von seinen Leuten, was weiß ich!«
Ein Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Abrupt kam das Rauschen in seinem Kopf zum Stillstand. Wie erstarrt schaute er zu Sophie.
Sie richtete sich auf.
»Wer ist das?«
»Ich seh schnell nach, bleib am besten hier.«
Hatte sie die Polizei gerufen?
»Bleib einfach sitzen, okay? Ich sehe schnell nach und komme dann wieder.«
Sie wandte sich ab und lief zu den Stufen, die aus dem Raum heraus in den Hauptflügel führten. Er hörte ihre nackten Füße über die Steinfliesen der Halle tappen, dann war es ruhig.
Ben legte den Kopf in den Nacken.
70
»Es ist nicht einfach für mich.«
Mia wollte ihr die Spitzen ihrer Finger in die Augen bohren.
»Ich habe die letzten Nächte fast kein Auge zugetan«, fuhr Vera fort. Sie hatte den Raum betreten, nachdem Mia wieder eingeschlafen war, und sie geweckt. »Ich muss mit dir reden.« Vera hob den Blick und sah Mia an. »Du musst mich hassen, weil ich dich hier festhalte.«
Was willst du von mir?, dachte Mia und zog sich noch weiter in eine Ecke
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