Der Architekt
am Abend nicht in seiner Wohnung angetroffen hatte. Ben hatte den Brief, rasend wegen des Ausschlags, der ihn quälte, in die Tasche gestopft, als er von Lillians Wohnung nach Hause gekommen war, hatte ihn vergessen, als Seewalds Anruf und die Ankunft der Polizei Schlag auf Schlag erfolgt waren. Erst jetzt erinnerte er sich wieder daran.
Er überflog die Zeilen der Mitteilung. Das Ergebnis der Agentur war eindeutig. Die Proben stimmten überein. Das eingesandte Haar und das Blut auf dem Stoffstückchen stammten von der gleichen Person. Fast war es, als würde sich ein Krampf lösen, der Ben seit Stunden gequält hatte: Götz hatte ihm nichts angehängt. Natürlich nicht! Wie hätte er sich denn auch mit Lillian in der U-Haft absprechen können? Es gab keine Absprache, keine Lügen, keine Täuschungsmanöver. Niemanden, der mit einem zweiten Schlüssel in seine Wohnung eingedrungen war. Das T-Shirt war bei ihm, weil er es am Abend des 25 . September
mitgenommen hatte!
Ben lehnte sich an den Mittelpfosten des pilzförmigen Unterstands, unter dem er vor dem Regen Schutz gesucht hatte. Er war nicht mehr allein mit seiner Schuld, alle wussten es. Als hätte der Tod der beiden Mädchen damit endlich eine Richtung, ein Gesicht bekommen. Als wäre die Sogkraft des Abgrunds, die ihm entgegenschlug, dadurch geschmälert oder zumindest eingedämmt worden. Das Rätsel um ihren Tod, endlich gelöst.
Ben hätte am liebsten mit Pia gesprochen, sie gefragt, was ihr wichtig gewesen war. Er wollte mit Svenja reden, sie von der Schule, dem Pferd erzählen hören. Er wollte ihnen von Ferne zusehen, den Klang ihrer Stimmen verfolgen, auch wenn er ihre Worte vielleicht nicht verstanden hätte. Bei aller Wirrnis, die ihn durchpulste, wollte er letztlich nur eins: sie um Verzeihung bitten. Es war ein Gefühl, das ihn fest im Griff hatte und kaum Luft holen ließ: Er wollte nicht viele Worte machen, nicht viel von ihrer Zeit in Anspruch nehmen, er wollte ihnen nur sagen, dass er wusste, was er getan hatte. Dass er sich nicht erklären konnte, wie es möglich gewesen war, wie es hatte geschehen können. Dass er sich jedoch nicht davor versteckte und die Tat auf sich nahm. Dass er ihnen entgegentrat mit dem Willen, als derjenige erkannt zu werden, der ihnen das angetan hatte. Und dass er sie dafür um Entschuldigung bat. Auch wenn sie ihm diese nicht gewähren konnten.
Als Ben sich erhob, war ein anderer Mensch aus ihm geworden. Es hatte sich in seiner Persönlichkeit etwas verschoben. Ein Vorgang, der sich in seinem Gesicht spiegelte. Das Fleisch um den Mund herum schien dicker geworden zu sein, es ragte ein wenig nach vorn, die Augen hingegen waren tiefer in ihre Höhlen gesunken. Er spürte, dass sein Gesicht konkaver geworden war, dass seine Arme in einer Weise schlenkerten, wie sie es vorher noch nie getan hatten. Er wusste, dass er durch einen Prozess der Einsicht und Vergegenwärtigung gegangen war, der ihn von allem Überflüssigen gereinigt hatte wie ein Bad in flüssigem Stahl. Vor ihm stand seine wahre Persönlichkeit, herausgeschält aus einem Wust von Nebensächlichkeiten, Irrtümern, Wünschen und Albernheiten. Übrig geblieben war der Kern seines Charakters, das Skelett seines Wesens. Ein hartes, kaltes Gerippe, von dem alles Fleisch abgefallen war und das trotzdem von einem Gefühl beseelt wurde. Von dem Gefühl, eine Schuld auf sich geladen zu haben, die größer war als es selbst. Eine Schuld, die in es hineingerammt worden war wie ein Pfahl.
Schmutzig gelb zerfloss der Himmel, der zwischen den blattlosen Ästen der Bäume hindurchzuschimmern begann. Die Stadt erwachte langsam zum Leben, das Rauschen der Straßen kroch über das Laub hinweg auf ihn zu.
Er schritt unter den Bäumen entlang, trat auf den Weg, der modrig und erdig in der Morgendämmerung dampfte. Blieb stehen und drehte die Handflächen zu sich nach oben. Es fühlte sich an, als ob eine Glühbirne beim Einschalten zerplatzte.
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Teil II
67
»Danke, wirklich, ich …« Ben sah unter dem Handtuch hervor, das sie ihm gegeben hatte und mit dem er sich die nassen Haare abtrocknete. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
Sophie stand der Schrecken noch im Gesicht. Sie hatte sofort bemerkt, dass irgendetwas passiert war. »Ruh dich erst mal aus.«
Sie standen sich in dem langgestreckten Wohnzimmer gegenüber, das sich im linken Flügel der Götz-Villa befand.
»Sophie …« Er suchte nach Worten.
»Was?« Ihre Stimme war leise,
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