Der Architekt
starrte ihn an. »Das ist es? Das soll ich machen?«
»Nein!«, seine Stimme röhrte.
»Was denn? Was machen wir jetzt?« Veras Gesicht schien sich in die Länge zu ziehen.
Der Mann hatte sie an den Armen gepackt, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, den Blick in ihre Augen gebohrt, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Aber die Aufregung musste seine Brust zusammenpressen, denn immer wieder wurde das Flüstern zu einem Kratzen, Fauchen, Krächzen.
»… mit den Kindern!«, drang es zu Mia.
»Lass uns erst mal raus hier«, war Vera zu hören, »wir müssen in Ruhe –«
»Ich hab verdammt noch mal nichts damit zu tun!« Die Ader an seiner Schläfe pochte. »Wenn ich sie hierlasse, willst du mich mit reinziehen in diese Sache, ist es das?« Er warf Mia einen harten Blick zu, als ob sie schuld an der Lage wäre, in der er sich befand.
»Fahr sie in die Stadt«, schrie Vera. »Was wartest du? Bring sie nach Hause, wenn du willst. Mir ist es egal! Oder fällt dir nicht doch vorher noch was anderes ein? Aber dann …« Sie riss sich zusammen, und ihre Stimme sank zu einem Wispern ab. »Sie wird vom Innenhaus berichten, Julian, und du hast die Pläne dafür gemacht, das muss dir klar sein!«
»Was dort passiert, habe ich nicht zu verantworten.« Der Mann fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.
»Du hast es entworfen.« Ein Lächeln huschte über Veras Gesicht, als ob sie ihn damit hätte, als ob er nicht mehr entkommen könnte.
Und mit einem Mal war es Mia klar: Vera hätte es niemals so weit kommen lassen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er das wollte. Sie wollte. Mia. Wehrlos ausgeliefert. Er war jemand, der mit so etwas spielte. Mit Grenzüberschreitungen. Tabus. Verbrechen.
77
Bens Blick flog über die Zahlen, Zeichen, Linien. Tiefe, Breite, Quadratmeterzahl der einzelnen Räume – soweit er sehen konnte, war alles exakt eingezeichnet. Die Angaben stimmten auf beiden Grundrissen überein! Wie konnte das sein?
Mit fliegenden Fingern griff er nach einem Lineal, das in der Stifteschachtel lag, legte es an, maß nach. Verfügte man über nur einen Grundriss, war es nicht zu bemerken. Dann begriff er.
Es war die Mauerstärke. Auf dem Grundriss mit dem schraffierten Kern waren die Mauern etwas
dünner.
So kamen im Schnitt auf jeden Meter acht Zentimeter zusammen! Bei einer Seitenlänge von zweihundert Metern ergab das die sechzehn Meter, die die Längsseite des schraffierten Kerns maß.
»Ein Haus im Haus«, flüsterte Ben, zuckte zusammen, als er sich das sagen hörte.
Auf dem einen Grundriss waren die Mauern dicker eingezeichnet. So füllte der Gebäudeblock den gesamten Baugrund zwischen den Straßen aus. Im anderen Grundriss war die tatsächliche Stärke der Mauern angegeben. Dort war es zu erkennen. Im Zentrum des Häuserblocks befand sich ein Areal, das sonst gar nicht auftauchte, in keinem Leitungsplan verzeichnet war. Es war über kein Fenster von außen zu sehen und auch im Dachbereich nicht kenntlich. Doch es existierte, befand sich im Kern des Blocks. Unsichtbar. Unauffindbar. Offiziell inexistent.
78
Es geschah instinktiv.
»Reden Sie mit mir, bitte«, hörte sich Mia mit heller Stimme sagen. Sie lächelte, fühlte, wie sein Blick unter ihrem nachgab. »Ich bin doch hier, ich … Wir sind doch vernünftige Leute, da gibt es doch Lösungen.«
Und welche?, rauschte es in ihr. Was hast du zu bieten?
Der Mann hatte sich von Vera abgewandt und machte einen Schritt auf Mia zu.
Mia streckte die Hand aus. »Ich bin Mia.« Sie ließ das a beim Ausatmen nachklingen.
Tun wir uns zusammen, bevor Ihre Frau uns beide ins Verderben stürzt?
Das war es, was sie den Mann fragen wollte. Aber wie sollte sie das anstellen? Vera stand ja daneben!
»Es tut mir leid, das alles ist …«, er griff nach ihrer Hand, »völlig absurd, ich …« Er drehte sich zu Vera um, die ein paar Schritte zurückgeblieben war, plötzlich allein stand, während Mia und er zusammenrückten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Musst du nicht die Polizei rufen? Was denkst du denn, was ich denen erzähle?
Es war wie mit Händen zu greifen. Jede Minute, die er die Situation weiter in der Schwebe hielt, war eine Minute zu seinen Lasten.
Er hielt ihre Hand noch immer in seiner.
Jetzt!, schoss es ihr durch den Kopf, und sie zog unmerklich an seiner Hand, fühlte, wie der sanfte Druck durch ihn hindurchging.
»Was soll das!« Veras Stimme schnitt durch den Raum. »Ist das der Ausweg?« Sie trat an den Mann
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