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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sagte er dann leise. »Wir brauchen einen Schuldigen! Genosse Kislew ist im Aufsichtsrat der volkseigenen Schwerindustrie und hat gute Freunde im Kreml. Er ist alter Kommunist! Er hat Einfluß. Wir brauchen einen Schuldigen am Tode seines Sohnes …«
    Der Oberarzt atmete auf. Er sieht die Falle nicht, dachte er glücklich. Nur so war es möglich, den deutschen Arzt herbeizuholen, zu helfen. Nur durch eine Gemeinheit, er ist ein Tatar, ein gelber Affe! Aber er ist alt und verbraucht … er merkt die Schlinge nicht, die ich ihm lege.
    Er löste sich vom Fensterbrett und trat in die Mitte des Zimmers.
    »Soll ich diesen Dr. Böhler holen lassen?« fragte er.
    »Noch nicht.« Pawlowitsch erhob sich ächzend. Er litt in der letzten Zeit an Rheuma. »Was macht Sellnow?«
    »Es geht ihm gut. Einige Stunden am Tag ist er bei Besinnung und unterhält sich mit der Schwester. Gestern hat er sogar geflucht, als man ihm das falsche Essen brachte.«
    »Was hat man?!« schrie Pawlowitsch. Der Oberarzt erbleichte. »Man vergaß, das er Diät leben soll. Man brachte Normalkost!«
    »Wer?«
    »Pfleger von Station III!«
    »Entlassen und melden!« schrie Pawlowitsch. »Wegen Sabotage melden!«
    »Aber, Herr Professor. Ein Versehen …«
    Pawlowitsch fuhr mit beiden Händen durch die Luft. »Ich will es so!« sagte er scharf. »Ein Versehen im Lazarett bedeutet den Tod! Ich kannte einen Fall, wo man einem Darmoperierten nach der Operation Grünkohl mit Mettwurst gab! Der Patient starb unter gräßlichen Qualen!« Der Professor schlurfte zur Tür. »Er wird entlassen und gemeldet! Ich will Ordnung in meiner Klinik haben … Wenigstens Ordnung, wenn alles andere versagt …«
    Der Oberarzt sah ihm nach, als er die Tür öffnete und auf den hellen, weißgestrichenen Gang trat.
    Versagen, dachte er. Auch du versagst, du Stalinpreisträger! Du weißt nicht mehr weiter, du ausgetrocknete Spinne, du Giftwurm ohne Blut.
    Dann ging er zum Telefon und rief den MWD an. »Ja«, sagte er. »Abholen. Den Pfleger Paul Semjojew, Station III. Sabotage. Sofort abholen! Danke.«
    Was ist ein Mensch in Rußland? In diesem Land, in dem selbst die Sonne Mühe hat, es ganz zu bescheinen?! Und wir alle sind ja nur Semjojews, die niemand vermißt …
    In dem kleinen Zimmer 9 am Ende des Ganges – dem Sterbezimmer der Klinik – lag Sascha Kislew apathisch in den Kissen. Eine Schwester und der junge armenische Arzt saßen neben dem Bett und untersuchten den Leib des Patienten. Als Professor Taij Pawlowitsch eintrat, erhoben sie sich und stellten sich in strammer Haltung ans Kopfende des Bettes.
    »Hoffnungslos«, sagte der junge Arzt ernst. »Der Magen ist durchgebrochen, und sein Inhalt ergießt sich in die Bauchhöhle. Er wird in kürzester Zeit innerlich verblutet sein.«
    Pawlowitsch sah den Oberarzt an. Zu spät, hieß dieser Blick. Ehe der Deutsche kommt, ist er schon tot – es sei denn, wir geben seinen Tod erst bekannt, wenn der Deutsche da ist! So lange muß er noch leben – auf jeden Fall! Es darf einfach kein Totenschein ausgestellt werden! Wenn Rußland will, daß er lebt, dann lebt er auch als Toter!
    »Sofort in das Lager schicken! Ich lasse einen Wagen abfahren, der den Deutschen holt! Und Sie« – Pawlowitsch wandte sich an den jungen Armenier – »Sie gehen zu Genosse Kislew und sagen ihm, daß der deutsche Arzt, der allein für den Zustand seines Sohnes zuständig ist, sofort geholt wird. Ich habe ihn nicht operiert. Die Schuld trifft allein Dr. Böhler! Sagen Sie ihm das.«
    »Ja, Herr Professor.«
    Schnell verließ der junge Arzt mit dem Oberarzt das Zimmer. Auf dem Gang blieb er stehen und sah seinen Chef an. »Das ist doch eine große Schweinerei, was der Chef da macht«, sagte er laut. Der Oberarzt winkte ab.
    »Nicht denken, mein Junge«, meinte er sachlich. »Wenn Sie ein guter Arzt werden wollen, dann tun Sie grundsätzlich nur das, was man Ihnen sagt. Darin unterscheiden wir uns von den Ärzten der anderen Staaten, die viel rückständiger sind!« Beißender Hohn lag in seiner Stimme, als er dem Armenier auf die Schulter klopfte. »Tun Sie, was der Chef Ihnen sagte! Mit moralischen Bedenken werden Sie hier keine Karriere machen …« Sein Schritt verlor sich in den weiten Gängen der Klinik. Der Armenier blickte ihm nach. Sein Gesicht brannte vor Scham. Aber er ging … Es war zu gefährlich, nicht zu gehen.
    Sascha Kislew starb sechs Stunden, ehe Dr. Böhler mit dem Sonderwagen Pawlowitschs in Stalingrad eintraf. Der Professor

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