Der Arzt von Stalingrad
Janina. Es ist zuviel für dich …«
»Sag es!« forderte sie mit kindlichem Trotz.
»Sie ist alles, was du sagst«, antwortete er gehorsam. »Aber nun leg dich wieder hin. Komm, ich begleite dich …«
Er faßte sie unter den Arm und zog sie vom Stuhl empor. Sie lehnte sich einen Augenblick an ihn, dann schnellte sie plötzlich empor und küßte ihn mit erschreckender Wildheit. Seufzend sank sie zurück und war wieder das kleine, schwache, hilfsbedürftige Mädchen, das sich abführen ließ. Plötzlich erfaßte sie ein Husten – sie wollte ihn verbergen, aber Doktor Schultheiß schüttelte nur den Kopf: »Solche Unvernunft! Du könntest sterben, Janina …«
In ihrem Zimmer knöpfte sie das Kleid auf und zog es über den Kopf. Geduldig und bewegungslos ließ sie sich das lange Nachthemd überstreifen, legte sich gehorsam hin und kuschelte sich in das weiche Kopfkissen. Glücklich sah sie Doktor Schultheiß an. »Bleibst du noch?«
»Ja. Bis du schläfst. Du mußt jetzt schlafen, Janina. Nur Ruhe kann dich wieder gesund machen. Völlige Ruhe.«
»Ich bin nur ruhig, wenn du da bist.«
Er hielt ihre Hand, ihr Atem wurde ruhiger. Bald merkte er, daß sie schlief. Vorsichtig tastete er nach ihrem Puls. Dann schlich er auf den Zehen aus dem Zimmer und schloß aufatmend die Tür hinter sich.
Er sah kurz zu Leutnant Markow hinein, wo Kommissar Kuwakino saß und las.
Auch Markow schlief. Er schlief schon seit der Operation mit kurzen Unterbrechungen. Dr. Kresin sagte, er sei immer schon faul gewesen und nutze seine Krankheit jetzt um so mehr aus.
»Haben Sie den Major gesehen?« fragte Dr. Schultheiß.
»Genosse Worotilow? Njet.« Kuwakino sah kurz von seinem Buch auf. »Vielleicht in Baracke …«
»Danke, Kommissar.«
Kuwakino kniff die Augen zusammen. »Eine Frage, Doktor …«
»Bitte, Kommissar.«
»Wollen Sie nicht werden Chefarzt in russische Klinik?«
Dr. Schultheiß lächelte abweisend. »Bedaure sehr, Kommissar. Ich habe nur einen Wunsch: Freiheit!«
Kuwakino zog unwillig die Stirn in Falten und blickte wieder ins Buch. Als Dr. Schultheiß die Tür leise hinter sich schloß, murmelte er vor sich hin: »Deutsche Bande! Man sollte keinen, keinen mehr nach Deutschland zurückschicken …«
Draußen stemmte sich der junge Arzt gegen den Wind, der von den Wäldern kam und den Schnee vor sich herpeitschte. Auf den Wachttürmen verkrochen sich die Posten, schemenhaft lagen die Baracken in den hohen Schnee gebettet. Die Rauchfahnen aus den Kaminen flatterten zerrissen um ihre Dächer.
Im Zimmer Worotilows brannte Licht, als Dr. Schultheiß die Kommandantur erreichte. Einen Augenblick zögerte er vor der Tür, dann stieß er sie auf.
Worotilow mußte ihm helfen. Gegen Janina Salja. Ihr Leben hing davon ab.
Dr. Schultheiß wußte, daß er sich noch nie in eine solche persönliche Gefahr begeben hatte wie in diesem Augenblick.
In der Baracke war es seit dem Selbstmord Julius Kerners stiller geworden. Der Motor der frohen Laune, die Heiterkeit Kerners, fehlte. Peter Fischer hatte sein Vermächtnis angenommen und die Trompete behalten. Er lernte fleißig bei einem Musiker auf Block 9 und erschütterte die Baracke mit den Wimmerlauten seiner Übungen.
Hans Sauerbrunn profitierte noch immer von seiner eingeschlagenen Nase. Er hatte ein Arbeitskommando in der Küche bekommen und begann seine Arbeit damit, dem Küchenmädchen Bascha Tarrasowa schöne Augen zu machen. Der russische Küchenchef Michail Pjatjal ertappte ihn sogar einmal, wie er ihr ungeniert unter den Rock griff, und gab ihm dafür eine Ohrfeige. Sauerbrunn nahm sie hin mit dem Optimismus des Wissenden, daß eine Ohrfeige nicht soviel wert sei wie die Portionen Fett, die er von Bascha für diese Beweise seiner Zärtlichkeit erhalten würde. So sorgte er dafür, daß die immer kärglicher werdenden Rationen in seiner Baracke aufgefüllt wurden. Sechshundert Gramm feuchtes Brot, eine Schale Kohlsuppe und zweihundert Gramm Hirse waren verflucht wenig bei der Schwerarbeit an den Baustellen im Wald und im Lager.
Für das kommende Weihnachtsfest, das man in der großen Freizeitbaracke feiern wollte, probten das Lagerorchester und der Lagerchor mit einigen Solisten, darunter der Kammersänger vom Nebenblock, eine Operette, die ein Plenni komponiert hatte und deren Text von einem neuen, aus Rostow verlegten Gefangenen stammte. Es war ein ziemlich sentimentales Machwerk mit Mondzauber und Bonbonsüße, mit schmelzenden Tönen und sogar einem Ballett,
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