Der Arzt von Stalingrad
Händen zerschmolz.
Er drehte sich um und ging an den kleinen Tisch. Der Kaffee duftete. Frisches Weißbrot lag auf einem Holzteller. In Rußland hungerten sie diesen Winter, aber sie aßen Weißbrot, Butter, fette Milch, Käse, Wurst und sogar zwei Eier.
»Du bist ein Rätsel«, sagte er und strich Alexandra über die schwarzen Haare. »Was würdest du tun, wenn ich dich verließe?«
»Umbringen!« sagte sie sofort. Dabei lächelte sie.
»Mich?«
»Uns beide, Sascha.« Wenn sie besonders zärtlich zu ihm sein wollte, nannte sie ihn Sascha. Er wußte nicht warum, er nahm es hin und freute sich am Klang ihrer tiefen Stimme.
Er belegte eine Scheibe Weißbrot mit roter, sichtlich gefärbter Zervelatwurst und klopfte sein Ei auf.
»Das würdest du tun?« fragte er dabei.
»Ja! Sofort! Ohne Reue!« Sie beugte sich über den Tisch zu ihm. »Du gehörst mir – und keiner anderen mehr! Keiner!«
Sellnow tauchte den Löffel in das Eigelb. Der Tod – ob das eine Lösung war? Er tat so, als suche er nach einem Taschentuch und tastete in der Hosentasche nach der zerrissenen Karte. Lieber Pappi, stand darauf. Sein Kopf sank tiefer. Alexandra sah ihn erstaunt an.
»Bist du wieder krank, Sascha, mein Liebling? Kommt das Fieber wieder?« Sie sprang auf und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie tastete nach seinem Puls; er ließ es geschehen, obgleich er wußte, daß er kein Fieber hatte.
Die Kasalinsskaja hob mit der Hand sein Gesicht zu sich empor. »Du bist so merkwürdig«, sagte sie leise. »Was hast du, Werner?«
»Nichts, Alexandraschka, nichts. Bestimmt nicht.«
Feigling, dachte er dabei, erbärmlicher Feigling! Würgend aß er weiter und schob dann den Stuhl zurück. »Ich muß hinunter. Wartest du hier auf mich?«
»Ich gehe in die Stadt einkaufen.«
»Gut.«
Er küßte sie hastig und rannte wie gejagt die Eisentreppe hinunter. Das Gefühl, mit Alexandra verheiratet zu sein, überwältigte ihn. Es war wie früher, in Deutschland, bei seiner Frau … Er ging in die Praxis, sie fuhr in die Stadt und kaufte ein für das Mittagessen. Sie sorgte für ihn, sie kochte und nähte, an den Abenden saßen sie zusammen, und in der Nacht fanden sie sich … Dort Luise … hier Alexandra … Was war eigentlich anders geworden? Der Ort … das Land … der Körper … der Name … was geblieben war, nannte sich schlicht Frau und Mann. Das blieb immer … überall …
Der Sanitäter legte ihm die Listen der Krankmeldungen vor. Sellnow sah sie gar nicht durch. Er winkte, und die Plennis strömten in das Zimmer. Kurz sah er sie der Reihe nach an und nickte. »Arbeitsunfähig«, sagte er hart. »Alle!«
Er sah nicht die erstaunten und glücklichen Augen der Gefangenen, nicht das Kopfschütteln des Sanitäters. Er war froh, als er nach wenigen Minuten wieder allein war. Einen Augenblick irrte sein Blick zu dem kleinen Wandschrank, wo die Morphiumampullen verwahrt wurden. Es wäre ein schönerer Tod als der, den ihm Alexandra bereiten würde, wenn sie erfuhr, daß er zu Hause Frau und Kinder hatte … Er saß hinter seinem Tisch und starrte auf den Fleck Licht, den die Sonne durch die Ritze der zugezogenen Gardine warf. Seine Hand lag auf den Fetzen der Karte. Wir warten auf dich …
Er hörte, wie Alexandra das Haus verließ, wie der Posten ihr, der Frau im Offiziersrang, seine Meldung entgegenschrie.
In diesen Minuten begann er zu beten – und er befürchtete, daß Gott, den er haßte, schweigen würde. Aber Gott schwieg nicht. Er half ihm, indem er wieder das Fieber schickte.
Es war eine schreckliche Hilfe, aber sie enthob ihn der Entscheidung. Sie gab ihm Zeit … für morgen … für übermorgen … Und übermorgen fuhr Alexandra zurück ins Lager!
Der Sanitäter, der dazukam, als er sich schwankend erhob, stützte ihn, zog ihn oben im Zimmer aus und half ihm ins Bett.
Als die Kasalinsskaja aus Stalingrad zurückkehrte, fand sie ihn in wilden Fieberphantasien. Sie jagte den Sanitäter aus dem Zimmer und zog die Spritze auf, die sie immer bereithielt. Sie allein wußte, wie das Fieber zu bekämpfen war – sie allein …
Blaß saß sie an seinem Bett und beobachtete ihn. Ein Abend stand in ihrer Erinnerung. Sellnow kam aus der Lungenstation und aß aus seiner Blechschüssel das Abendessen. Es war Kohlsuppe – und der Geschmack des Kohls verdrängte den Geschmack des Pulvers.
Rache, dachte sie damals, Rache, du deutsches Schwein! Du hast mich überwältigt, mich genommen. Jetzt sollst du dafür
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