Der Arzt von Stalingrad
Schultheiß ihn sanft niederdrückte, schlug er mit beiden Armen um sich und schrie grell.
»Nein! Nein! Laßt mich! Laßt mich los! Ich will nichts verraten! Ich will euch alles sagen! Laßt mich los! Hilfe! Hilfe! Nicht in die Scheiße! Hilfe! Gnade … Gnade …« Er wimmerte und schlug die Hände vor die Augen. Speichel rann aus seinem Mund. Sein Körper bäumte sich.
Ingeborg Waiden trat an das Bett und nahm Grosse sanft die Hände von den Augen. »Sei still«, sagte sie fast zärtlich. »Du bist doch in Sicherheit.«
Beim Klang der Frauenstimme öffnete Walter Grosse die Augen. Er starrte die Schwester ungläubig an und wandte den Kopf zu Dr. Schultheiß.
»Herr Doktor …«, stammelte er. Er tastete nach seiner Hand und hielt sie ganz fest. In seinen Augen flackerte wieder die Angst. »Sie werden mir nichts wieder tun …?«
»Nein. Hier sind Sie in Sicherheit …«
»Sie wollten mich in der Latrine ersäufen!« Walter Grosse schluchzte und drehte den Kopf zur Seite. »Sie haben mich in die Scheiße geworfen und wollten mich mit Stangen unter den Brei stoßen. O mein Gott … mein Gott …« Er weinte wie ein kleines Kind, hell, plärrend, unterbrochen von lautem Schluchzen.
Dr. Schultheiß nickte Ingeborg Waiden zu. Sie verließ leise das Zimmer, um Dr. Böhler zu benachrichtigen. Der Arzt drehte den Kopf des Wimmernden wieder zu sich herum.
»Nun ist alles gut, Walter. Wir haben dich gerettet, und nun lebst du weiter …«
»Wie lange noch?«
»Bis deine Zeit abgelaufen ist.«
Grosse klammerte sich an den Armen des Arztes fest. Seine Augen bettelten.
»Werden sie mir bestimmt nichts mehr tun?« Sein Atem keuchte. »Sie werden mich wieder in die Latrine stoßen, wenn ich aus dem Lazarett komme.« Er ließ sich zurückfallen ins Bett und weinte wieder. »Ich habe solche Angst …«
So lag er einige Zeit, bis sich die Tür öffnete und Dr. Böhler eintrat. Walter Grosse kreischte auf. Er konnte vom Bett aus nicht sehen, wer hereinkam.
»Sie kommen mich holen! Hilfe! Hilfe!« Er wollte aus dem Bett springen, aber Ingeborg Waiden trat in den Lichtkreis. Das beruhigte Grosse, er ließ sich zurückgleiten. Dr. Böhler trat an das Bett. Mit einem Nicken erhob sich Dr. Schultheiß und verließ mit Ingeborg Waiden das Zimmer.
Dr. Böhler nahm Grosses schlaffe Hand. »Nun sind wir allein, Walter Grosse, ganz allein … Du kennst mich?«
»Ja, Herr Stabsarzt.« Grosse nickte beruhigt. »Sie haben mich gerettet, Sie sind gut …«
»Warum hat man dich in die Latrine geworfen?« fragte Dr. Böhler hart. »Bist du so ein Schwein, daß man dich ersäufen muß? Nun sag die Wahrheit, Walter Grosse …«
In die Augen des Geretteten trat ein gehetzter Blick. Wie ein getretenes Tier sah er Dr. Böhler an.
»Sie auch?« stammelte er ängstlich.
»Ich habe dich gerettet, weil ich Arzt bin. Jetzt bist du außer Gefahr … und jetzt frage ich dich als Plenni! Als einer deiner Kameraden, die bei Stalingrad gefangen wurden und seit fünf Jahren auf die Heimkehr hoffen. Ein Plenni wie du. Oder bist du gar kein Plenni, Walter Grosse?«
Der Mann im Bett zitterte, als werfe ihn ein eisiger Sturm hin und her. Seine Zähne klapperten hörbar vor Angst und Entsetzen.
»Antwort!« herrschte Dr. Böhler ihn an.
»Doch! Doch!« Walter Grosse weinte wieder. »Ich bin ein Plenni. Aber der Kommissar …«
»Wadislav Kuwakino.«
»Ja. Er legte mir eine Liste vor, die er aus Deutschland bekommen hatte. Er wußte jetzt, daß ich einmal Kreisorganisationsleiter in Stuttgart war, Politischer Leiter, und daß man mich in Stuttgart bei den Amis angezeigt hatte, ich hätte 1943 russische Fremdarbeiter geschlagen.« Grosse hob beide Arme. »Ich schwöre bei Gott: Es ist nicht wahr!«
»Weiter!« sagte Dr. Böhler ungerührt.
»Der Kommissar sagte mir, damit sei mein Todesurteil bereits gesprochen. Er brauche nur zu winken, dann käme einer ins Zimmer und gäbe mir den Genickschuß. Ich fiel zusammen, ich heulte und kroch auf den Dielen herum. Ich war so feige, so elend feig. Ich wollte leben! Da sagte der Kommissar, daß er mich retten könnte, wenn ich ein V-Mann zum MWD würde, wenn ich meine Kameraden im Lager bespitzeln und es ihm melden würde und alle anzeigte, die schlecht über Rußland und die Kommunistische Partei sprechen. Ich habe ihm die Hände geküßt und den Schein unterschrieben! Damit war ich frei … keiner gab mir den Genickschuß, ich bekam sogar in der Küche von Pjatjal mehr zu essen als die anderen. Und
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