Der Arzt von Stalingrad
ich meldete alles, was ich hörte und sah.«
»Dann warst du doch ein elendes Schwein!«
»Ich bin Vater von vier Kindern. Ich will wieder nach Hause!«
»Und wieviel Familienväter hast du denunziert? Daran hast du nicht gedacht! Nur immer ich! Ich! In der Gefangenschaft heißt es ›wir‹! Das ›wir‹ ist das große Symbol der Kameradschaft. Du hast es in den Dreck gezogen und solltest im Dreck ersticken. Das war nur gerecht … Siehst du das ein?«
Walter Grosse kroch in sich zusammen. »Ja …«, röchelte er.
Dr. Böhler schob die Hand weg, die zaghaft nach ihm tastete. »Noch etwas«, sagte er hart. »Worotilow wird dich verhören, auch Dr. Kresin, vielleicht auch Kuwakino … Du weißt nicht, wer dich in die Latrine warf! Du hast sie nicht erkannt! Verstanden? Wenn du nur einen Namen nennst, wirst du wieder in die Latrine fliegen … und dann werde ich vergessen, daß ich Arzt bin, und dich nicht retten! Ich werde es auf mein Gewissen vor Gott nehmen, dir jede Hilfe zu verweigern! Hast du mich verstanden?!«
»Ja.« Walter Grosse zitterte, die Tränen rannen über sein Gesicht. »Ich habe es doch nur aus Angst getan … Man wollte mich erschießen … und ich habe vier Kinder …«
Die Tür sprang auf, Major Worotilow stand im Rahmen. Walter Grosse fiel in die Kissen zurück, er wimmerte vor Angst.
»Sie allein mit Grosse?« fragte Worotilow sarkastisch. »Darf ich mich Ihrem Verhör anschließen, Doktor?«
»Ich untersuche nur den Patienten.«
»Seelisch, ich verstehe.«
»Er ist vernehmungsfähig. Aber ich muß als Arzt bemerken, daß sein Herz einen Schock bekommen hat und bei Überanstrengung ein Herzschlag eintreten kann.«
Major Worotilow lachte leise. »Ich verstehe nichts von Medizin, aber so idiotisch bin ich nicht, um nicht zu wissen, daß so ein Schock im Herzen völliger Quatsch ist! Das gibt es nicht. Grosse ist gesund … vielleicht noch ein wenig nervenschwach. Aber das gibt sich.« Er trat an das Bett. Walter Grosse starrte ihn aus tief in den Höhlen liegenden Augen an. »Nun, du Schwein«, sagte Worotilow. »Schade, daß du nicht mehr Scheiße gefressen hast!« Mit den Beinen angelte er sich einen Schemel heran und setzte sich. Unwillkürlich rückte Walter Grosse in die äußerste Ecke des Bettes.
»Wer hat dich in die Latrine geworfen?«
Grosse starrte Major Worotilow an. »Ich habe sie nicht erkannt.«
»Ich lasse dich erschießen, wenn du mir die Namen nicht nennst!«
»Ich weiß es nicht!« schrie Grosse gellend. Er warf sich aufs Gesicht und krallte die Finger in das Bett. Auf und nieder zuckte sein Körper.
»Er ist nicht mehr vernehmungsfähig«, sagte Dr. Böhler aus seiner Ecke heraus.
Worotilow erhob sich schnell. »Gut haben Sie das gemacht. Sehr gut! Ein wenig Seelenmassage, was? Glauben Sie, daß sie anhält?«
»Ja.«
Worotilow nickte. Er lächelte breit und hob grüßend die Hand. »Wie gut Sie mich damals verstanden haben, Herr Doktor«, sagte er voll scharfen Hohns. »Der Sieg der Macht! Die Macht des Grauens! Ich hätte Sie nicht darüber zu unterrichten brauchen … ich sehe, daß unsere Methode auch in Ihren Händen gut ist!« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Erinnern Sie sich Ihrer Zeit in dem Waldlager? Im Sommer? Denken Sie an unsere ideologischen Gespräche?« Er legte die Hand an seine Tellermütze. »Ich grüße jetzt meine Idee in Ihnen, Herr Doktor …«
Als die Tür zuklappte, kaute Dr. Böhler an der Unterlippe. Er schaute auf den weinenden Walter Grosse, den Angst und Grauen schüttelten. Die Angst trieb ihn in das Lager des russischen Geheimdienstes, die Angst trieb ihn zurück zu seinen deutschen Kameraden. Und zwischen diesen Ängsten wurde sein Leben zermahlen – zu Mehl, zu Staub, der im leisesten Wind zerflattern würde. Der ein Nichts werden würde … die grauenhafte Leere, die hinter der Angst steht.
»Ekelhaft«, sagte Dr. Böhler leise. Denn auch er hatte plötzlich Angst. Ein Name trat in sein Bewußtsein, der ihn zaghaft machte: Wadislav Kuwakino.
Noch saß er nebenan bei Leutnant Markow.
Noch! Doch was war, wenn er herausbekam, was geschehen war? Wenn er Grosse verhörte? Würde dann die Angst vor den Russen nicht doch stärker sein?
In diesem Augenblick wünschte sich Dr. Böhler, daß Walter Grosse nie wieder erwacht wäre. Er sah die Schwäche, auf die er baute, und wußte, daß Grosse dem Druck Kuwakinos nicht standhalten würde.
Die Lage begann kritisch zu werden, als am Abend des gleichen Tages das
Weitere Kostenlose Bücher