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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Brillen.
    Gegenüber war ein Café, Jensen setzte sich hinein, alles war klebrig, und es herrschte eine deprimierende Stimmung. Ein junges Paar schwieg sich an, an den anderen Tischen saßen, jeder für sich, Männer, die seit Jahren auf ihren Zug warteten.
    Jensen bestellte ein Bier. Er fragte sich, ob es nicht ein Fehler war, Lulambo zu vertrauen, aufs Geratewohl zum Hafen zu fahren und dort nach Ilunga Likasi zu suchen. Am Leopolddock. Aber die Übereinstimmung war frappant: Jorn Lachaert hatte den Namen des Docks auf die Surinam-Karte gekritzelt, und Lulambo schien das gewusst zu haben.
    Weil sie sich kannten, das war die naheliegende Erklärung. Die Entführung oder Beseitigung Ilunga Likasis war ein Gemeinschaftswerk von Jorn und Lulambo. Danach sah es aus, aber es überzeugte Jensen nicht.
    Sie waren in einem Haus, das nicht Ihnen gehört.
    Um das zu wissen, hätte Lulambo es von Jorn Lachaert erfahren müssen. Jorn, dachte Jensen, ist nach Hause gekommen, kurz nachdem ich dort war. Er hat vielleicht bemerkt, dass jemand sich umgesehen hat. Aber selbst wenn es so gewesen war: Jorn konnte nicht wissen, dachte Jensen, dass ich es war.
    Hatte Lulambo geraten? Möglich. Es schien allerdings, als sei die irrationalste Erklärung für einmal die plausibelste: Vielleicht war Lulambo tatsächlich ein Hellseher.
    Die Zukunft zu kennen war unmöglich, das hatte Jensen in der Salvatorkirche überzeugend nachgewiesen. Die Physik schloss die Zukunftsschau aus. Aber für eine übersinnliche Kenntnis der Gegenwart und der Vergangenheit, und darum ging es hier ja, gab es in der Physik einen äußerst merkwürdigen Präzedenzfall: die Quantenverschränkung.
    Jensen fehlte jetzt aber die Zeit, um über diesen Präzedenzfall nachzudenken. Er musste handeln, sofort, und wenn keine Zeit für Überlegungen war, vertraute man ambesten seinem Gefühl. Und sein Gefühl sagte Jensen, dass Lulambo ihn auf die richtige Spur geführt hatte. Leopolddock. Zwei Riesen, die im Wasser schwimmen. Ein Schiff, dessen Name etwas mit Riesen zu tun hatte. Jetzt war der Moment gekommen, die Lesebrille zu benutzen.
    Es war eine Reise-Lesebrille, zusammenklappbar. Sie war für durchreisende Sterbliche gedacht, die noch einmal einen scharfen Blick auf die Welt werfen wollten, bevor sie sie für immer verließen.
    Jensen zögerte einen Moment. Er nahm Abschied. Dann klappte er die Brille auseinander und klemmte sich die Bügel hinter die Ohren. Durch zwei saubere Fensterchen betrachtete er den Stadtplan, der ausgebreitet auf dem Tisch lag.
    Er war überwältigt.
    Seit Langem hatte er nicht mehr so gut gesehen.
    Sein Blick reichte bis in die schmalsten Gassen der Antwerper Altstadt: Schoytestraat, Schuttershofstraat, es war in Ameisenschrift geschrieben, und er konnte es trotzdem lesen. Er fand auch sofort, wonach er suchte, es sprang ihm buchstäblich ins Auge: Im Antwerper Hafen gab es zwei nach Königen benannte Docks, das Albertdock und das Leopolddock. Das eine konnte man streichen, so wie Jorn es getan hatte.
    Zum Leopolddock zweigte von einer der Stadtautobahnen eine Zulieferstraße ab. Von ihr aus konnte man vermutlich erkennen, ob im Dock ein Schiff vor Anker lag, das beispielsweise Two Giants hieß.
    Die Bedienung brachte das Bier, Jensen trank aber nur einen Höflichkeitsschluck. Er faltete Stadtplan und Brille zusammen und eilte aus dem Bahnhofsgebäude. Auf dem Koningin Astridplein streckte ihm ein Bettler die Hand entgegen; der Mann trug keine Schuhe, nur Socken. Aufeinem der Häuser neben dem Bahnhof blinkte in Leuchtschrift die aktuelle Temperatur, minus acht Grad, dem Mann drohten Erfrierungen ersten Grades. Jensen fand es ungerecht, dass er dank der Brille wieder ausgezeichnet sehen konnte, während dieser Mann noch nicht einmal Schuhe besaß. Er drückte dem Bettler zwei Zehn-Euro-Scheine in die Hand und sagte: »Für Schuhe. Nicht für Schnaps.«
    Der Bettler starrte die Scheine an, mit so viel Geld hatte er nicht gerechnet, sein Gesicht nahm einen weinerlichen Ausdruck an.
    »Ich bin kein verdammter Hund!«, rief er. »Ich brauche deine Hilfe nicht! Nimm deine Kohle und hau ab!« Er warf Jensen die Noten ins Gesicht; neben der Temperaturanzeige blinkte jetzt die Zeit, 23:11.
    »Hör mir zu!«, sagte der Bettler, er packte Jensen am Arm. Es war ein kraftloser Griff, Jensen entwand sich ihm mühelos und lief zu seinem Wagen. Auf der Windschutzscheibe hatte sich eine Frostkruste gebildet, mit dem Pannendreieck schabte Jensen sie weg. Der

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