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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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und des Mannschaftsdecks.
    Das Schiff wuchs ihm über den Kopf.
    Und was, wenn er Ilunga Likasi wider Erwarten fand und sie befreite? Er hatte bisher nur über die für ihn günstigen Konsequenzen nachgedacht. Wenn er Ilunga Likasi Verstreken lebend präsentierte, wurde der Fall ad acta gelegt, niemanden interessierten dann noch die Fingerabdrücke auf dem Zettel, Annicks Telefonnummer würde im Archiv verschwinden. Aber damit war die Bedrohung ja nicht aus der Welt. Annick würde von der Nacht in Island so oder so erfahren. Entweder durch Verstreken oder durch Ilunga Likasi. Dass er das erst jetzt begriff, erklärte Jensen sich durch die Turbulenz der Ereignisse: Er war einfach nicht dazu gekommen, darüber in Ruhe nachzudenken. Nun aber erkannte er es in aller Klarheit: Was immer er tat, ob er Ilunga Likasi befreite oder nicht, es war irrelevant. Seine Handlungen, egal, auf welcher Entscheidung sie beruhten, hatten keinerlei Einfluss auf das, was unweigerlich geschehen musste. Wenn er umkehrte und das Schiff mit Ilunga Likasi ziehen ließ, nach Surinam, würde er sich Verstreken stellen müssen, und Verstreken würde darauf pochen, mit Annick über den Drohbrief zu sprechen. Wenn er die zweite Option wählte, in das Schiff eindrang und Ilunga Likasi befreite, würde sie ihm vielleicht im ersten Moment dankbar sein. Das und der Tod ihrer Mutter, dachte er, werden sie eine Weile versöhnlich stimmen. Ihr Vater wird verhaftet werden wegen versuchter Entführung, auch das wird sie besänftigen. Aber eines Tages, dachte er, wird sie sich an Annick erinnern, an die Freundin ihrer Eltern, die für diese Freundschaft bestraft werden muss, und sie wird sich vornehmen, diese Angelegenheit zu erledigen.
    Nicht ganz schlüssig, dachte Jensen. Es war nicht wirklich unausweichlich. Er sah einen Türspalt, durch den es vielleicht ein Entweichen gab. Vielleicht gab Ilunga Likasi sich mit dem Tod ihrer Mutter und der Inhaftierung des Vaters zufrieden, vielleicht erlosch dadurch ihr Bedürfnis nach Rache; vielleicht vergaß sie ihn und vor allem Annick. Es war eine dünne Hoffnung, aber sie brachte die Waagschale zum Kippen: Die Gefahr, dass Annick es erfuhr, schien größer zu sein, wenn er Ilunga Likasi nicht befreite. Seine Entscheidungen waren also doch nicht völlig irrelevant, nur nahezu. Ein Bleistiftstrich Freiheit, damit musste der Mensch auskommen.
    Es wäre außerdem auch nicht falsch gewesen, ein Entführungsopfer einfach nur deshalb zu befreien, weil die Menschlichkeit es gebot.
    Amen, dachte Jensen.
    Er ging um den Bug herum und entdeckte auf der anderen Seite des Schiffes den Landungssteg, der steil zum Deck hochführte. Das Tor des Zauns, hinter dem die Straße lag, stand offen, beleuchtet vom gelben Licht einer Straßenlampe. Der Wind klimperte mit den Stahlseilen eines Fahnenmasts. Der leere Quai, die Stille, es schien, als sei das Schiff verlassen.
    Täusch dich nicht, dachte Jensen. Die Mannschaft mochte auf Landgang sein, aber zwei oder drei waren bestimmt zurückgeblieben, um die Menschenfracht zu bewachen. Oben auf der Brücke, hinter dem einzigen hellen Fenster, passte jemand auf.
    Im Schutz der Bordwand näherte Jensen sich dem Landungssteg. Er versuchte, den Blinkwinkel der Wache abzuschätzen. Von der Brücke aus war der Landungssteg vermutlich schlecht einsehbar. Er würde es ja gleich herausfinden. Nur das Klimpern der Seile und sein Herz waren zu hören, es klopfte ihm im Ohr. Als er den Landungssteg hochging, lösten seine Schritte metallische Geräusche aus, die ihm Sorgen machten. Dieser Steg schien ein Resonanzkörper zu sein, selbst eine Katze hätte nicht geräuschlos über die Stufen huschen können. Tock, tock, tock! Jensen behielt die Brücke im Auge, er glaubte, hinter dem Fenster eine Bewegung zu sehen, die ihm aber nur seine Anspannung vorgaukelte. Als er das Schiff endlich erklommen hatte, richteten sich die Fenster des Mannschaftsturms auf ihn. Sie waren zwar alle dunkel; dennoch fühlte er sich wie eine Rosine auf dem Teller. Der einzige Ort, an dem er sich vor Blicken in Sicherheit bringen konnte, war der Turm selbst. Der vereiste Stahlboden bestrafte jeden unachtsamen Schritt; in kleinen Schritten, als überquere er ein Eisfeld, näherte Jensen sich dem Turm. Er schwitzte unter seiner Skijacke, das Unterhemd klebte ihm am Leib. Als er den Blickschatten des Turms erreicht hatte, zog er den Kragen der Jacke und des Pullovers auseinander und fächelte sich damit Luft zu. Er konnte sich

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