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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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sich hin, die Waffe in der rechten Hand, er wartete. Er spielte den Angriff mehrmals durch: Die Tür geht auf, Miguel betritt den Raum. Du holst aus, hältst die Waffe tief, dachte Jensen, einen Meter über dem Boden und brichst ihm mit einem Schlag das Knie. Ein gebrochenes Schienbein, eine gespaltete Kniescheibe, es gab kaum einen intensiveren Schmerz, Miguel würde nicht genügend Luft bekommen für einen Schrei.
    Jensen übte die Aktion wieder und wieder, er schlug mit dem Pritschenbein in die Dunkelheit, zertrümmerte imaginäre Schienbeine; er veränderte seine Position, er entschied sich, Miguel zuerst nur zu drohen, verwarf diesen Gedanken, stellte sich alles noch einmal Punkt für Punkt vor, stets gab es noch etwas zu verbessern, und in der Dunkelheit tanzten die weißen Punkte …

    Er schlug die Augen auf. Die Pritsche hing schief an der Wand, die Matratze war halb hinuntergerutscht.
    Und seine Hände waren leer.
    Er stemmte sich vom Boden hoch, jeder seiner Knochen erstattete Meldung, kleine Schmerzen an verschiedensten Stellen, und es war hell, das Nachtlicht brannte, Jensen starrte es an.
    Die Waffe war weg.
    In der Mitte des Raums stand ein Suppenteller, auf dem Boden, es gab ja keinen Tisch, daneben eine Flasche Bier. Sie waren hier gewesen, die Tür hatte sich geöffnet, und du hast es verpasst!, dachte er. Du bist zu alt! Er stampfte mit dem Fuß auf, er konnte nicht verstehen, wie man so dummsein konnte, so schwach, so vollkommen untauglich für alles, das anspruchsvoller war als fernzusehen. Es wunderte ihn, dass er das Gelächter des Kapitäns nicht hörte. Wie sehr musste es ihn und die Seinen amüsiert haben, ihn mit der Waffe in der Hand schlafend vorzufinden. Und sie waren noch so höflich gewesen, ihn nicht zu wecken! Wie einem schlafenden Kind hatten sie ihm das Pritschenbein aus der Hand gezogen, damit er nicht am Ende noch sich selbst verletzte! Sie nahmen ihn jetzt nicht mehr ernst, zu Recht nicht, er selbst hätte keinen Cent mehr auf sich gewettet. Wer in einer solchen Situation einschlief, so plötzlich vor allem, noch bevor er die Müdigkeit überhaupt als Gefahr erkannte …
    Er konnte seinem Körper nicht mehr trauen. Der Geist war noch jung, der Geist hätte dreitausend Jahre lang leben können. Wenn er nicht in diesem Gebilde aus Fleisch gesteckt hätte. Fleisch war eines der verletzlichsten und vergänglichsten Materialien im Universum, nur schon einem Holzsplitter hielt es nicht stand. Ein immenser Energieaufwand war nötig, um Fleisch daran zu hindern, das zu tun, was es am besten konnte: zu zerfallen. Fleisch war eine Idiotie der Natur. Der Mensch hätte einen Körper aus Silizium verdient, um dreitausend Jahre lang dummes Zeug zu denken, dachte Jensen. Er wäre lieber dreitausend Jahre lang ein denkender Stein gewesen, als in entscheidenden Situationen einzuschlafen, nur weil das Fleisch, aus dem er bestand, nach lächerlichen einundfünfzig Jahren den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen war.
    Immerhin taugte Fleisch dazu, verspeist zu werden. Im Suppenteller lag ein Stück Rindfleisch, in einer Brühe. Eine Karotte, etwas Lauch, Tafelspitz, dachte er. Sie servierten ihm Tafelspitz, ohne Besteck. Er hielt den Finger in die Brühe, sie war kalt. Die Oberseite des Rindfleischs hatte sich bereits dunkel verfärbt.
    Zwei oder drei Stunden, dachte er. So lange stand der Teller schon hier.
    Da die Pritsche unbrauchbar geworden war, ihr fehlte ja ein Bein, zog er die Matratze auf den Boden. Er setzte sich darauf und aß, mit den Fingern. Das Fleisch war erstaunlich zart, es zerging auf der Zunge, am Koch gab es nichts zu bemängeln. Es ärgerte Jensen, dass er das Essen genoss. Selbst die Karotte schmeckte himmlisch. Die Brühe war perfekt gewürzt, ein Hauch Nelke, Lorbeer, schwarzer Pfeffer … Er trank das Bier, obwohl er keine Ahnung hatte, wie spät es war; die Regel, nie vor sechs Uhr abends zu trinken, machte keinen Sinn, wenn man nicht wusste, ob draußen die Sonne oder der Mond schien.
    Er stellte die halb leere Flasche auf den Boden und beobachtete den Flüssigkeitsspiegel. Die Flasche war so gut wie eine Wasserwaage. Tatsächlich bewegte sich das Bier, der Schaumrand wich von der idealen Horizontlinie ab, sogar deutlich: ein Indiz dafür, dass das Schiff in den Wellen schwankte. Die Gigantia 2 war unterwegs, nach Surinam. Damit erübrigte sich jeder weitere Fluchtversuch, die anderen hatten gewonnen. Jensen trank die Flasche leer und warf sie an die Wand.
    Nun

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