Der Assistent der Sterne
hatte er etwas zu tun, er sammelte die Scherben zusammen. Aber bevor er damit fertig war, erlosch das Nachtlicht. Mitten im Schritt hielt er inne. In der Dunkelheit setzte er vorsichtig, noch ohne Druck, den Fuß auf den Boden. Er spürte die Spitze einer Scherbe. Mit dem Fuß schob er sie weg, sie blieb aber zwischen den Zehen kleben. Beim Versuch, sie abzuschütteln, verlor er das Gleichgewicht. Er konnte nun nicht anders, als den Fuß mit Wucht irgendwo abzusetzen, er trat mitten in ein Scherbennest.
»Mach das Licht an!«, schrie er, so laut er konnte, es linderte den Schmerz. »Miguel!« Seine Fußsohle fühlte sich feucht an, durch den Schmerz hindurch rann das Blut aus den Wunden. »Ich brauche Licht!«
Er war in einem Scherbenfeld gefangen. Keinen Schritt konnte er mehr tun, ohne sich nicht noch übler zu verletzen.
»Miguel!«, schrie er. »Ich brauche einen Arzt! Hörst du? Sag es dem Kapitän!« Ein Arzt, das war eine gute Idee, sie hatten doch bestimmt einen dabei. Der Schiffsarzt und der Kapitän, vielleicht bestand zwischen den beiden eine Rivalität, vielleicht konnte Jensen den Arzt als Verbündeten gewinnen.
»Miguel!«
Du Scheißkerl!, dachte er.
»Du hörst mich, ich weiß es! Komm her und sieh es dir an!«
Ich blute, hörte er Annick sagen.
»Ich blute!«, schrie er, und das Nachtlicht leuchtete wieder. Jensen sah, dass sich unter seinem Fuß, den er nur auf der Ferse belastete, eine Blutlache gebildet hatte. Der Schmerz, so heftig er war, hatte ihn dennoch getäuscht: Die Verletzung war wesentlich schlimmer, als es sich anfühlte. Er bückte sich und hob eine große Scherbe auf, er ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden.
Und dann ging die Tür auf, einen Spalt weit nur, und jemand streckte den Kopf hinein.
Es war nicht Miguel.
»So eine Scheiße«, sagte Jorn Lachaert. »Gott ist mein Zeuge. Ich habe das nicht gewollt. Das alles. Es ist zum Kotzen.«
Draußen war Tag. Durch das von Regentropfen und Gischt verschlierte Fenster sah Jensen das Meer. Es war grau, Schaumkronen ritten auf tausend kleinen Wellen. Ein Wintermeer, kalt und mürrisch, die Wolken eilten darüber hinweg.
»Wo sind wir?«, fragte Jensen.
»Das? So eine Art Pausenraum. Wenn sie mal einen Kaffee trinken wollen. Aber es wird keiner kommen. Keine Angst. Wir sind hier unter uns.«
»Nein, ich meine: Wo befindet sich das Schiff?«
Jorn Lachaert starrte in den Verbandskasten, der vor ihm auf dem Tisch lag. Er griff hinein und zeigte Jensen ein kleines Fläschchen.
»Ist es das?«, fragte er.
»Was steht drauf?«
Jorn Lachaert kniff die Augen zusammen.
»Merfen«, sagte er.
»Geben Sie her.« Jensen lagerte den verletzten Fuß auf einem Hocker, die Scherben steckten noch drin. »Ich brauche eine Pinzette«, sagte er.
»Pinzette«, wiederholte Jorn Lachaert. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte, als befinde er sich auf einer Geschäftsreise. »Pinzette.«
»Da ist doch eine«, sagte Jensen.
»Das?«
»Nein, das ist eine Schere!«
»Sie machen es am besten selbst.« Jorn Lachaert schob ihm den Verbandskasten hin. »Ich bin kein Arzt. Ich bin gar nichts.«
Jensen winkelte den Fuß an, er musste es jetzt hinter sich bringen. Die Pinzettenöffnung war zu klein, die Scherbe zu dick; Jensen weitete die Pinzette, aber es half nichts: Das hier mussten die Finger erledigen. Er biss sich auf dieLippen, um einen Ablenkungsschmerz zu erzeugen, und zog die Scherbe mit einem Ruck aus dem Fleisch. Es waren jetzt noch zwei.
»Ich war einmal etwas«, sagte Jorn Lachaert. »Aber jetzt bin ich nichts mehr.« Er schraubte seine Flasche auf.
Die zweite Scherbe steckte tiefer, dem Schmerz nach im Knochen. Jensen versuchte, sie hinauszudrücken, wenigstens so weit, dass er sie fassen konnte, aber es kam nur Blut, es tropfte auf den Plastikbezug der Sitzbank.
»Das muss raus«, sagte er, er übergoss die klaffende Wunde mit dem Desinfektionsmittel, und dann griff er hinein, in sein eigenes Fleisch, die Finger rutschten an dem blutigen Glas ab. »Das muss raus!«, rief er und bohrte die Finger tiefer hinein, die Wunde musste genäht werden, aber von wem, verdammt! Endlich bekam er die Scherbe zu fassen, ihm war schwindlig, die Finger voller Blut, Jorn Lachaert streckte ihm die Flasche hin.
»Trink einen Schluck«, sagte er. »Es ist gut gegen Schmerzen.«
Nur eine Scherbe noch, die letzte, sie ließ sich leicht entfernen, man brauchte nur noch einmal in die offene Wunde zu greifen.
»Das wird sich entzünden«, sagte
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