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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Gletscherfeld mit seiner so viel jüngeren Freundin, die bis jetzt kein Wort gesprochen hatte und deren Wut, oder was immer es war, einem schier die Luft raubte. Der ganze Wagen war erfüllt davon, als hätte jemand ein faules Ei zertreten.
    Jensen blickte aus dem Fenster, es gab mit Wellblech verkleidete Holzhäuser zu sehen. Hinter winzigen Wohnzimmerfenstern warteten die Menschen im Schein der Stubenlampen auf den Sonnenaufgang. Nach einer Weile lichteten sich die Häuser. Es wurde noch dunkler, die Sterne traten hervor. Jensen sah auf einem Feld in der Nähe derFernstraße einige Leute stehen, reglos, im Halbkreis. Die Szene wurde von zwei an einer Mauer befestigten Scheinwerfern beleuchtet. De Reuse fuhr in hohem Tempo an der merkwürdigen Versammlung vorbei. Erst als die Gruppe außer Sichtweite war, begriff Jensen, dass es sich um ein Begräbnis gehandelt hatte. Den Isländern schien offenbar nicht bewusst zu sein, dass ein Begräbnis in der Dunkelheit den Ruch des Heimlichen hatte. Im Winter, vermutete Jensen, heirateten die Isländer in der Dunkelheit, sie gingen im Dunkeln mit ihren Anwälten zum Scheidungsgericht, sie erfuhren in der Dämmerung von ihrem Arzt, dass sie die nächste Mitternachtssonne nicht mehr erleben werden.
    Durch die Windschutzscheibe konnte Jensen zwei Lichterstreifen sehen, die sich in der Ferne verloren. Dorthin waren sie unterwegs, ans Ende der Lichter.
    »Wo ist das Hotel?«, fragte Ilunga Likasi. Seit der Abfahrt vom Flughafen, und das war schon eine Weile her, hatte noch niemand im Wagen ein einziges Wort gesprochen.
    Jensen setzte sich aufrecht hin. Sie kann sprechen, dachte er. Was für ein Wunder.
    Van Gaever schlug die Augen auf.
    »Wo«, fragte sie noch einmal, »ist das Hotel?«
    »Geduld«, sagte De Reuse. »Hab einfach ein wenig Geduld.« Sie blickten einander nicht an, er starrte auf die Straße, sie auch.
    »Fahren wir denn in ein Hotel?«, fragte Van Gaever.
    De Reuse drehte sich zu ihm um.
    »Sie sollten sich jetzt anschnallen. Sie auch, Jensen«, sagte er. »Wir verlassen die Ringstraße und fahren ab jetzt auf der Kaldidalurpiste. Sie ist gesperrt. Aber daran hält sich hier keiner. Es ist eine Abkürzung.«
    »Ach so«, sagte Van Gaever. Er griff auf der Suche nachdem Einsteckschlitz für seinen Sicherheitsgurt nach Jensens Hand.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er. Er war Chemielehrer an einer Berufsschule in Antwerpen, er bildete Laboranten aus, mehr wusste Jensen nicht über ihn.
    Die Kaldidalurpiste, Jensen erinnerte sich: Der Taxifahrer hatte davon gesprochen. Jensen schnallte sich an.
    Sie glaubt, dass wir zu einem Hotel fahren, dachte er. De Reuse hatte sie also belogen. Sie schien von dem abgelegenen Haus am Langjökull nichts zu wissen. Van Gaever weiß es, dachte Jensen, ich weiß es, aber ihr hat er es verschwiegen. Jensen fragte sich, ob es nicht seine Pflicht gewesen wäre, das jetzt zur Sprache zu bringen. Aber er kannte die beiden ja nicht, er wusste nicht, was zwischen ihnen vorging. Húsafell, dachte er. In der Nähe des Hauses am Gletscher gab es eine Ortschaft, die Heimat des Taxifahrers und vier Meter hoher Birken. Da es sich bei diesen Birken anscheinend um eine Attraktion handelte, gab es in Húsafell bestimmt ein Hotel, zumindest eine Pension. Vielleicht war das die Erklärung: In Húsafell gab es ein Hotel. De Reuse hatte vor, seine verwöhnte Freundin dort einzuquartieren, während die Männer im wahrscheinlich viel unkomfortableren Haus am Fuß des Langjökull wohnten.
    Das Heck des Wagens rutschte weg. De Reuse gab Gegensteuer, die Räder drehten durch, der Motor brüllte.
    »Festhalten!«, sagte De Reuse.
    In den kommenden zwei Stunden kämpfte er mit der Kaldidalurpiste, man hielt sich an allem fest, an den Gurten, an den Haltegriffen über der Tür, man stemmte die Beine gegen die Fahrtrichtung. Einmal drehte der Wagen sich um die eigene Achse, Van Gaever stöhnte leise.
    »Das ist Island«, sagte De Reuse mehrmals.
    Seine Freundin schwieg. Wann immer es die Umstände erlaubten, ließ sie den Haltegriff los, um die Arme zu verschränken. Seit der Abfahrt aus Reykjavík war dies ihre bevorzugte Haltung: die trotzige Selbstumarmung.
    Inzwischen hatte sich die Sonne über den Horizont geschoben, unter großer Anstrengung, so schien es; man konnte förmlich ihr immenses Gewicht spüren, das es ihr verunmöglichte, höher als über einen Bergkamm in der Ferne zu steigen. Wenn es nach Jensen gegangen wäre, hätte die Sonne sich die Mühe

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