Der Assistent der Sterne
Verantwortung ziehen, er stand unter dem Regime seines Fetischs. Und Trees Lachaert lag jetzt wohl unter einem Sauerstoffzelt auf der Intensivstation, weil mir der Schal verrutscht ist, dachte er, sie hat den Biss gesehen. Der Logik dieser lügnerischen Prophezeiung folgend, war sie zum Schluss gekommen, dass der Mörder ihrer Tochter vor ihr stand. Über die Konsequenzen hätte Jensen lieber nicht nachgedacht. Er tat es dann aber doch.
Falls sie zu sich kommt, dachte er, wird sie Jorn und O’Hara erzählen, dass ich das Teufelsmal am Hals trage.
Er verstand jetzt auch, warum O’Hara, kurz bevor sie mit Jorn ins Krankenhaus gefahren war, ihn gefragt hatte, ob er etwas am Hals habe. Sie kannte natürlich die Prophezeiung im vollen Wortlaut. Und sie wird mich fragen, dachte er, was ist es? Woher hast du das?
Jensen kämpfte gegen die Hoffnung an, dass der Notarzt mit seiner Einschätzung von Trees Lachaerts Überlebenschancen recht bekommen würde. Es war ein niederträchtiger Gedanke. Aber es wäre dadurch alles einfacher geworden.
Sie möge ewig leben, dachte er zur Buße.
Das Problem konnte anders gelöst werden, durch Doktor Vanackere und seine Salben. Er rief auf dem Handy die Nummer der Praxis an und hinterließ, da die Praxis um diese Zeit bereits geschlossen war, eine Nachricht auf dem Beantworter. Er bat um einen Termin, möglichst morgen schon, es handle sich um einen Notfall.
»Nicht dramatisch«, fügte er hinzu. »Aber dringend.«
Endlich erreichte er Brügge, mit klammen Gliedern; aus den Lüftungsschlitzen der defekten Wagenheizung war nur kalte Luft geströmt, und die Sitzheizung kannte kein Maß: Die linke Hälfte des Fahrersitzes wurde unerträglich heiß, sodass man die Beheizung stoppen musste, bevor die Rückenlehne auch nur lauwarm geworden war. Jensen nahm sich vor, den Wagen bei nächster Gelegenheit in die Werkstatt zu bringen.
Den Heizungsmonteur hatte er nicht angerufen. Auch das musste erledigt werden, gleich morgen, wie alles andere auch.
Er parkte den Wagen an der Ringstraße, und in schnellemSchritt, um sich warm zu halten, lief er durch die verwaisten Gassen. In der Nähe des Beguinenklosters lag eine Katze auf der noch warmen Motorhaube eines Wagens. Jensen sah wenig Hoffnung für sie, bestimmt war sie herrenlos, und sobald der Motor ausgekühlt war, würde sie nur mit Glück einen Platz finden, an dem sie die bevorstehende Frostnacht überleben konnte. In den letzten Tagen waren in Brügge mehrere Katzen erfroren, dem ›Nieuwsblad‹ war es heute eine Meldung wert gewesen.
Bevor er das Hotel betrat, blickte Jensen in den Sternenhimmel; die Schneewolken hatten sich verzogen, alles glänzte und glitzerte, der Mond wirkte wie geschliffen. Für die Brügger Katzen bedeutete das prächtige Sternfunkeln drei oder vier Kältegrade mehr, sie hätten sich eine wärmedämmende Wolkendecke gewünscht, die Schönheit des Nachthimmels brach ihnen das Genick.
Hinter der Rezeption wartete wie üblich Van der Elst; er trug zur Hoteluniform einen dicken roten Wollschal, seine Nase war gerötet.
»Es hat mich erwischt«, sagte er. »Die Grippe.«
Jensen hielt Abstand, er durfte jetzt nicht krank werden.
»Sie sollten sich ins Bett legen«, sagte er vorwurfsvoll.
Er ging nach oben auf sein Zimmer. Es war perfekt aufgeräumt; ein Zipfel des Bettlakens war in strengem Winkel umgeschlagen worden. Während seines Aufenthalts im De Tuilerieën hatte Jensen noch nie ein Zimmermädchen zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn einen anderen Gast. Es war seltsam, in einem Hotel zu wohnen und nicht zu wissen, ob man der einzige Gast war. Morgens, wenn er noch im Bett lag, hörte Jensen manchmal Geräusche, Stimmen auf dem Korridor, den Klingelton des Aufzugs oder Schritte im Zimmer über ihm. Im Frühstücksraum war aber immer nur für ihn gedeckt. Falls außer ihm nochandere hier logierten, waren es stille Gäste, die einen anderen zeitlichen Rhythmus hatten als er selbst.
Er holte sich aus der Minibar ein Bier, es war neun Uhr; da er schon um sechs hätte trinken dürfen, empfand er dieses Bier als harmlos. Er genoss es ohne die üblichen Befürchtungen, mit gebrochenem Genick am Fuß einer Treppe zu enden, das letzte Glas noch in der Hand, wie seine Mutter. Man hatte ihr die Finger aufbrechen müssen: noch im Tod wollte sie das Glas nicht hergeben.
Jensen trank das Bier in Eile, er war ja im Rückstand. Als er das zweite öffnete, klingelte sein Handy. Es konnte nur O’Hara sein, wer sonst.
Weitere Kostenlose Bücher