Der Atem der Angst (German Edition)
randvoll. Vielleicht waren sie ganz dicht davor, das Geheimnis zu lüften. Oder zumindest ein bisschen Licht ins Dunkle zu bringen. Doch sie kam nicht dazu, von ihrer Entdeckung zu berichten, weil Louis sie mit einem Mal sehr ruhig ansah und stotterte. » Ich… ich…« Plötzlich war seine Stimme ganz leise. Kaum zu hören. Er wirkte mindestens so unsicher wie sie selbst vorhin. Aber im Gegensatz zu ihr sah er keine Notwendigkeit, diese Schwäche zu verschleiern. Er holte tief Luft: » Ich hab noch etwas gefunden. Und… und gleichzeitig etwas verloren.«
Maya wurde innerlich ganz weich. Sie war voller Bewunderung für diesen Jungen, der keine Scham hatte, sich ihr in seiner Verletzbarkeit zu zeigen. Sie band sich die Haare mit einem Lederband zurück und setzte sich aufrecht hin. » Was denn?«
» Meine Mutter.« Louis schniefte. » Sie ist tot. Sie lag tot in ihrem Schlafzimmer auf dem Boden…« Louis atmete noch einmal tief ein, wobei sein gesamter Körper erschauderte. » Jemand hat sie erstochen. Direkt… direkt in den Bauch gestochen.« Jetzt brach Louis die Stimme ganz weg, sein Kopf sackte gegen Mayas Schulter, seine Wange rieb über das weiche Fell ihres Umhangs. Sie spürte seinen warmen, traurigen Atem an ihrem Hals. » Sie lag ganz ruhig da. Wie ein Engel.«
» Das tut mir leid.« Zögernd legte Maya ihre Hand auf Louis’ Oberschenkel und strich vorsichtig darüber.
» Ich habe meinen Vater verloren.« Maya flüsterte es fast. » Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich kann es fühlen.« Und schon tropfte eine erste Träne auf ihr nacktes Knie. Dann noch eine und noch eine. Und mit einem Mal weinte sie, wie sie es seit einem Jahr hatte tun wollen. All die Härte, die sie sich für das Leben im Wald antrainiert hatte, fiel mit einem Mal von ihr ab. Louis griff nach ihrer schmutzigen Hand. Er hielt sie fest. Er nahm die Mädchenhand in seine beiden Hände und umschloss sie ganz. Und er weinte mit Maya. Sie weinten gemeinsam, auf den Fellen. Sie schlangen ihre Arme umeinander und weinten um all das, was sie verloren hatten. Und sie weinten, weil sie sich gefunden hatten. Für diesen Moment. Um all den Schmerz zu teilen, um nicht alleine zu sein. Sie weinten über die Einsicht, dass sie gemeinsam einen Auftrag zu erfüllen hatten, bei dem ihnen kein Erwachsener helfen konnte. Jetzt konnten sie niemandem mehr trauen. Außer sich selbst.
52 . HEIDI
Heidi holperte in ihrem Wagen aufs Sägewerksgelände, über schwarze aufgeworfene Erde, am Haupthaus vorbei, in dem früher die Sägewerkerfamilie gewohnt hatte. Heute befand sich darin das Sägewerksmuseum. Neben einem Haufen Holzpaletten und einem roten Pick-up hielt sie an. Sie schlug die Wagentür zu und lief auf den lang gezogenen Schuppen zu, dessen Tür offen stand. Es roch nach frischem Holz. Die kalte Luft war erfüllt vom Kreischen der Sägen. Sie war schon wieder viel zu spät. Sobald sie hier fertig war, würde sie zu Hause anrufen und hören, was Winnie machte. Eigentli ch wo llte sie schon vor zwei Stunden zu Hause gewesen sein.
Heidi blickte in den großen Schuppen hinein, in dessen Mitte eine riesige Kreissäge stand. Das Licht fiel in schmalen, hellen Balken von draußen durch die Holzlatten ins Innere, dessen Boden komplett mit Sägespänen bedeckt war. Weiter hinten stand eine alte Kutsche. An der Säge standen zwei Männer in Holzfällerhemden und schwarzen Arbeiterhosen, die einen Baumstamm der Länge nach in dünne Bretter zerteilten
Heidi machte einen Schritt hinein. » Guten Tag.«
Die Männer an der Säge hörten sie nicht. Sie trugen gelbe Ohrschützer. Heidi wartete, bis die Männer den Baumstamm fertig zerlegt hatten, und tippte dann einem von beiden auf die Schulter. » Guten Tag, können Sie mir helfen?«
Der Größere der beiden schaltete die Säge ab, deren rotierendes Blatt noch eine Weile nachdrehte. Heidi musste weggucken. Sie war einmal mit einem Jungen aufs Internat gegangen, der mit der Hand in die Kreissäge geraten war und dabei seine Finger verloren hatte. Schon damals hatte sie die Vorstellung nicht ertragen, was für unerträgliche Schmerzen er ausgehalten haben musste. Innerhalb einer Millisekunde konnte man einen Menschen mit so einer Säge schlimm, sehr schlimm verstümmeln. Sie durfte gar nicht daran denken.
Die beiden Männer nahmen ihre Ohrschützer ab. Der Blonde mit den stechend blauen Augen und den auffallend dicken Oberarmen guckte Heidi reglos an. » Können wir was für Sie tun? Hier ist Zutritt für
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