Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
Matrosen in weichen Federbetten empfingen. Der Wind frischte auf. Der Himmel zuckte. Wir holten die Segel ein, und der Wind warf uns hin und her. Unsere Boote trieben weit auseinander, und der Regen kam ganz plötzlich als heftiger
eiskalter Sturzbach, es war zum Lachen, wie wir noch eben die verdammte Hitze verflucht hatten und uns plötzlich klatschnass zu Tode froren. Wir drehten bei. Mit einem Mal war es dunkel, und es musste gelenzt werden, und Gabriel konnte nicht. Er hatte sich auf dem Boden ausgestreckt, seit Skip wieder auf das Kapitänsboot gegangen war, um unsere Kopfzahl auszugleichen, und jetzt konnte er sich kaum von den Planken hochhieven. Das große Zittern war über ihn gekommen. Jeder Blitz beleuchtete ihn, wie er da mit zuckenden Beinen und knirschenden Zähnen zentimetertief im kalten Wasser lag. Erst am nächsten Morgen, als der Regen nachließ, konnten wir schlafen, und kaum war ich wieder wach, sah ich ihn mit geschlossenen Augen und konzentrierter Miene aufrecht dasitzen. Seine Gesichtsfarbe war eigenartig olivgrün.
    »Er will seinen Zwieback nicht essen«, sagte Tim.
    »Gabe? Du musst essen.«
    Er reagierte nicht.
    Danach aß er nichts mehr. Und kaum noch ein Tropfen Wasser drang durch seine Lippen. Der Wind beruhigte sich, statt stürmisch war er nur noch lebhaft, und wir trieben weiter dahin, hüpften auf und nieder. Er aß nicht, öffnete aber die Augen und fing wieder an, Gott zu verfluchen.
    Wir sangen Der Blinde stand auf der Straße und weinte in der Nacht, als Gabriel starb.
    Der Blinde stand auf der Straße und weinte, oh, der Blinde stand auf der Straße und weinte, oh Herr, rette mich, der Blinde stand auf der Straße und weinte . . . immer und immer noch einmal. Immer wieder von vorne, drei oder vier Mal, mit den heiseren, piepsigen Resten unserer Stimmen. Gabriel sang ebenfalls, mit geschlossenen Augen, entrückt. Er war gut zu mir gewesen. Hatte sich um mich gekümmert. Über sein Leben an Land und über alles vorher wusste ich nichts, erinnerte mich auch nicht mehr, ob er mir davon erzählt hatte oder nicht. Aber
welch ein seltsam tiefes Wissen ich in jenem Moment plötzlich über ihn besaß. Er hörte auf zu singen, öffnete die Lider und sah mir mit seinen glänzenden Augen direkt ins Gesicht. Mir brach das Herz. Er streckte mir die Hand hin, und ich nahm sie, doch es war keine Kraft mehr darin. Seine Hand war trocken und salzig wie ein Bückling.
    »Geh nicht, Gabriel«, sagte ich und brach in Tränen aus.
    Doch er ging. Er tat es einfach, ganz ruhig, und schaute mich nur an. Erst war er noch da, und dann war er fort. Nicht mehr Gabriel hinter seinen glasigen braunen Augen.
    »Bitte, Gabe«, sagte ich.
     
    Benommen im Kopf war ich schon eine ganze Weile gewesen, doch irgendwann um diese Zeit verflüchtigte sich das Empfinden, eilte hinauf in die höheren Regionen des Himmels. Es war eine andere Welt, strahlender als die alte, wie gerade erst frisch gestrichen. Seltsame Magie zauberte sie weg – diesen, jenen, einen Dritten, dann noch einen –, einen nach dem anderen. Sie wurden aus ihren Körpern gezogen. Ich wurde immer voller, voll bis zum Rand, und alles lief mir aus den Augen und über mein Gesicht. Eine gewisse Schönheit hatte es auch. Meine Schiffskameraden. Ihre Gesichter in meinem Kopf. Ihre Stimmen, erhoben zum Gesang. Ihr Fleisch ebenfalls, herrlich. Blut aus Organen, dünn. Klümpchen, wunderbar. Klebrig, süß und üppig. Sie waren Leben für mich. Ein Eimer mit Rotem und Braunem. Ich kann ihn noch riechen. Meine Nase ist versalzen. Ich habe Fleisch, meine Nase läuft, das Salz beißt, und ich weine.
    Ich weiß nicht, welcher Tag es war, als das Boot des Kapitäns verschwand. Wochen auf jeden Fall. Wochen, Wochen . . . mussten vergangen sein, weil Skip wieder zu uns gekommen war und davon gefaselt hatte, wie er sich die ganze Zeit wach gehalten hatte, aus Angst, sie würden ihm die Kehle durchschneiden.
    »Sie hassen mich«, sagte er.
    Über dem Wasser das Gesicht des Kapitäns, hager und traurig. Simons, leer, mit offenem Mund, fast schwarz verbrannt.
    »Ach, komm, Skip«, sagte Tim, »bei uns wird es dir gutgehen. Wir sind alles nette Jungs hier. Aber bring nicht deine Dämonen mit.«
    »Sind nicht meine Dämonen. Warum weint Jaff?«
    »Keine Ahnung.«
    Es passierte danach. Wie lange danach, weiß ich nicht. Mein Verstand wandert. Schwankt. Flackert. Bleibt stehen. Traum entrollt sich. Das Meer veränderte sich andauernd. Es regnete sehr viel.

Weitere Kostenlose Bücher