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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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sie sei in Stellung, aber sie könnte trotzdem zu Hause sein. Ihr Gesicht genau wie seines. Tim ließ sich nicht vergessen. Der Geschmack einer Himbeertasche. Weiter, Jaff, schlängel dich durch die Menge. Geh hinunter zu den Docks und heuer beim ersten Schiff an, das dich haben will.
    Bis ich schließlich doch in der Fournier Street landete und nach ihrer Haustür suchte. Traurig unnummeriert waren einige dieser Häuser. Mrs Linver hatte eine schwarze Tür neben einer Böttcherei, drei Stufen führten zum Eingang hinauf, und im Parterrefenster hing ein Plakat für die Abendvorstellung im Gun
boat. Ishbel öffnete die Tür. Schwarz gekleidet, leuchtende braune Augen, blasses Gesicht, blonde Haare, hinter die Ohren gestrichen. Ein kurzer Blick, und dann konnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen und schaute an ihr vorbei.
    »Ich hab mich schon gefragt, wann du wohl kommst«, sagte sie.
    »Hallo, Ish.«
    Sie machte einen Schritt nach vorn und umarmte mich förmlich, wobei ihre seidige Wange kurz meine frischen Stoppeln streifte. Lieber Gott, hilf, dass ich mich nicht zum Narren mache. Damals war sie größer als ich. Jetzt hatte ich sie eingeholt. Als sie zurücktritt, sehe ich jedoch, dass ich sie in Wirklichkeit um mehr als fünf Zentimeter überrage, und dabei trägt sie Stiefel mit hohen Absätzen. Sie hat sich verändert. Ist es das schlichte Schwarz, das sie etwas respektabler erscheinen lässt? Was ist sie jetzt für mich? Ich habe keine Ahnung.
    »Sieh mal an«, sagte sie, »du bist erwachsen geworden.«
    »Du auch.«
    Sie führte mich durch einen dunklen Flur in ein seitlich gelegenes Zimmer.
    »Es heißt, du hast eine feste Arbeit.«
    »Das stimmt.« Sie sah über die Schulter nach hinten. »Mr Jamrach hat mir eine Stelle in Clerkenwell besorgt.«
    »Gefällt sie dir?«
    Sie zuckte die Achseln und öffnete eine Tür.
    Die Wohnung war schöner als die alte, mit hohen Decken, einem Erker mit einer großen Fuchsie in einem weißen Topf, einem schönen schwarzen Herd an einer Wand und glänzenden Messinggeräten vorm Kamin. Mrs Linver saß in einem Schaukelstuhl, die pantoffelbewehrten Füße auf dem Kamingitter.
    »Schau mal, wer uns besuchen gekommen ist«, sagte Ishbel fröhlich.
    Mrs Linver fuhr hoch und starrte mich an. Ein malträtiertes
Taschentuchknäuel fiel auf den Boden. »Wie kannst du es wagen, ohne ihn zurückzukehren!«, schrie sie.
    »Sei nicht albern, Mutter«, sagte Ishbel. »Es ist nicht Jaffys Schuld.«
    »Es tut mir so leid, Mrs Linver«, flüsterte ich. Ich hielt es kaum aus. »Es tut mir so schrecklich leid.«
    »Setz dich, Jaffy.« Ishbel schob mich auf einen Stuhl. »Ich geh Tee kochen«, und weg war sie.
    Ihre Mutter machte ein paar hektische Schritte in meine Richtung, die Hände zu Fäusten geballt. Von Leid gezeichnet, das war sie. Dunkle, eingefallene Wangen. Einen halben Schritt vor mir blieb sie zitternd stehen, ließ sich dann auf ein Knie nieder, um mir besser ins Gesicht blicken zu können. Es war entsetzlich, ihr in die Augen zu schauen. »Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist, Jaffy«, sagte sie mit Nachdruck. »In Wirklichkeit weiß ich es, aber trotzdem ist es einfach sehr, sehr hart.«
    Meine Augen brannten.
    »Es ist sehr, sehr hart«, wiederholte sie und starrte mich an.
    Ich dachte, mir zerspringt der Schädel, versuchte zu sprechen, aber meine Kehle war blockiert.
    Ishbel kam wieder ins Zimmer. »So, der ist gleich fertig«, sagte sie und zog einen kleinen Tisch heran, half ihrer Mutter wieder hoch, schob sie zurück in ihren Sessel und reichte ihr das fallen gelassene Taschentuch, alles, wie mir schien, in einer einzigen fließenden Bewegung. Jeder Zentimeter an ihr, jede Geste, war mir vertraut und gleichzeitig vollkommen fremd, die reale Person hatte mehr von einem Traum als meine Erinnerung an sie.
    »Es war sehr hart für unsere Ishbel«, sagte Mrs Linver und blickte mich immer noch an, »sie musste im Grunde die Vaterrolle übernehmen. Wo ihr Bruder nun nicht mehr ist. Wir sind Mr Jamrach sehr dankbar, dass er eine so gute Arbeit für sie gefunden hat.«
    »Ja, natürlich.« Ishbel zog sich ebenfalls einen Stuhl heran
und saß dann, die Hände im Schoß, sehr steif und aufrecht wie eine Dame. Ein weiblicher Busen hatte die zwei kleinen zitronenförmigen Brüste ersetzt, die ich in Erinnerung hatte. Ihre Hände waren so schlimm wie immer, und ich sah fasziniert zu, wie sie gleichzeitig mit ihren Fingern spielte und an ihnen zupfte. »Seltsamerweise kommen wir

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