Der Atem der Welt
Wusstest du das?«, sagte ich. »Was bist du nur für ein elender Freund!« Erschrocken merkte ich, wie mir die Tränen kamen.
Er lächelte seltsam ausdruckslos. »Der Alte ist weg«, sagte er.
»Was?«
»Der Alte. Papa. Er ist tot.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So wenig Beachtung, wie Tim seinem Vater geschenkt hatte, hätte er genauso gut der Kohleneimer sein können.
»Oh«, sagte ich. »Woran ist er gestorben?«
»Am Tod«, sagte er leichthin, »daran ist er gestorben, Jaffy, alter Junge. Am Tod.«
»Mein Name stand auch da«, sagte ich, »ganz oben. Sie hat an uns beide geschrieben.«
»Nein, Jaff.« Er sah mich traurig an. »Das hat sie nicht. Tut mir leid, da hast du dich wirklich geirrt. Sie schickt liebe Grüße. Am Ende schickt sie liebe Grüße an dich. Das hab ich dir doch gesagt.«
Ich wünschte, Mama könnte schreiben. Ich vermisste Mama. Ich vermisste Ishbel. Wegen meiner Tränen musste ich mich plötzlich abwenden.
»Keine verdammten Nixen mehr«, murmelte Tim.
»Ich hab meinen Namen gesehen«, sagte ich.
Tim legte den Kopf zur Seite, zog die Schultern hoch und runzelte nachsichtig die Stirn. Würde ich dich anlügen?, sagte sein Blick. Verletzt, dass ich ihm misstrauen konnte.
Ich hielt den Kopf schief und trat an die Reling. War doch egal. Und überhaupt? Wieso hatte sie nicht einen zweiten Brief nur an mich schreiben können? Hier gab es nichts außer Schiffsplanken voller Gischt und einem halb schummrigen Logis, in dem es Tag und Nacht knarrte und ächzte. Wieso war ich hier in dieser verrückten, beengten, rastlosen Welt? Zeit für mich allein gab es nicht mehr. Weder Zeit noch Raum, keinen Platz zum Träumen, außer im Schlaf. George hatte das Richtige getan, als er am Kap frühzeitig von Bord ging. Ich vermisste die Marktgeräusche und den Geruch im Meng und das Klingeln an Jamrachs Tür und den Geruch von Stroh und Dung in seinem Hof und das Klacken des Kopfsteinpflasters unter meinen Fü
ßen. Dort hatte ich einen Ort, wo ich hingehörte. Hier war ich nur Mädchen-für-alles. Gischt flog mir ins Gesicht. Die Welt war zu groß. Ich drehte mich um und sah Dag. Er stand da, so starr, wie er konnte, während die Welt um ihn herum sich hob und senkte. Das sahnegelbe Haar klebte ihm platt an seinem großen Schädel. Er versuchte, einen riesigen weißen Vogel nicht zu erschrecken, der sich auf dem Geländer niedergelassen und mit finsterem Blick dort festgekrallt hatte, den gebogenen Schnabel auf- und zuklappte und die Flügel spreizte. Warum so böse?
Die Gischt fiel wie Schnee. Eine Welle zerbarst über unserem Bug, zersprang wie Glas, überflutete das ganze Schiff bis zur Kombüse, und als ich wieder klar sehen konnte, war der Vogel fort.
»Was ist denn nun mit diesem Ding?«, fragte Skip.
»Welchem Ding?«
»Mit diesem Ding. Dem Drachending.«
»Das weiß niemand.«
Das Abendessen war vorbei, und wir rauchten eine Pfeife an Deck. Skip kritzelte träge in seinem Skizzenbuch. »Dieses Ding«, wiederholte er, »dieses Drachending, was ist damit?«
»Ein Ora«, erklärte ich, weil Dan Rymer ihn manchmal so nannte. Ich rief Dan zu uns herüber. »Er will was über den Ora wissen«, sagte ich.
»Ich weiß gar nichts über den«, sagte Dan, gegen den Mast gelehnt. »Ich hab einen Mann getroffen, der einen Mann kannte, der einen Mann getroffen hat, der einen Mann kannte – ungefähr so ein Ding ist das. Es gibt Geschichten. Natürlich ist es ein großes, grimmiges Wesen. Und es gibt Inseln, von denen die Eingeborenen sich fernhalten.« Bisher hatte er sehr ernst gesprochen, doch jetzt musste er grinsen. Seine oberen Zähne zeigten sich gelb, drei oder vier sehr tiefe Furchen kerbten seine Stirn. »Und wenn ihr brav zuhört, Jungs, dann erzähl ich euch
Geschichten, da gefriert euch das Blut in den Adern«, krächzte er, rieb sich die Hände und befeuchtete seine Lippen.
»Darf ich mit, wenn du ihn jagst?«, fragte Skip.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es sage.«
Weiß der Himmel, wieso er Tim mitnehmen wollte. Ich wäre der Bessere gewesen. Jederzeit. »Was ist, wenn es wirklich ein Drache ist?«, sagte Tim eines Nachts, als wir rauchend in unseren Kojen lagen. »Ein echter Drache. Der Feuer spuckt. Mit Flügeln und allem. Allmächtiger!« Das sagte er so, dass jeder es hören konnte.
»Wieso willst du überhaupt mit?«, fragte Dan Skip. »Lust zu sterben?«
Skip zuckte liebenswürdig mit den Schultern. »Ist mir egal«, sagte er.
Dan setzte sich zu
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