Der Atem der Welt
Erinnerung nach damals hieß, er habe sich hinter ihn gestellt und ihm an die Keh
le gegriffen, worauf der Tiger sein Maul öffnete und mich aushustete. Wie sollte ich die Wahrheit kennen? Ich habe ja nicht selbst zugesehen. Allerdings weiß ich noch, dass ich im Maul des Tigers war, oh doch, das weiß ich noch. Und deshalb war ich auch der Held. Gibt nicht viele, die schon mal in einem Tigermaul gesteckt haben. Und da war keiner, der mich nicht in irgendeiner Weise darum beneidete.
»Na, wenn das keine Geschichte ist, die du noch deinen Enkeln erzählen kannst«, sagte Mr Comeragh lächelnd. Er hatte eine schreckliche Erkältung, und seine Oberlippe glühte und schuppte sich.
Natürlich war die Geschichte nach einer Stunde überall herum, und in den folgenden Tagen musste ich sie noch so viele Male erzählen, dass die tief in Fleisch und Blut übergegangene Erinnerung immer wieder wie eine große Woge in mir hochstieg. Für kurze Zeit war ich der große Heldenprinz im Logis, eine sehr willkommene Abwechslung. Natürlich hielt es nicht an, doch für ein oder zwei lustvolle Tage gehörte die Geschichte mir und zirkulierte im Rauch, während wir in unseren Kojen und Hängematten auf dem Rücken lagen. Modergeruch hing in dem vernebelten Raum, schummrig im Windlichtschein, und Pfeifenqualm stieg zur niedrigen Eichendecke.
Das Kopfteil von Skips Koje stieß an mein Kopfteil.
»Und wie war es in Wirklichkeit?«, wollte er wissen. »Kannst du dich noch daran erinnern? Also wirklich erinnern? Wie du in seinem Maul warst.«
»Oh ja.«
In meinen Träumen kehrt es immer wieder. Auf verschiedene Weise. Jetzt bin ich vernünftig und würde mich nie mehr auch nur in die Nähe eines Tigermauls begeben, aber damals war es einfach nur grandios, ein Triumph. Jetzt würde und könnte ich nie mehr dort hineinwollen.
»Ich kann es nicht beschreiben«, sagte ich.
Er schwieg eine Weile, sagte dann nachdenklich: »Ich wüsste ja gern, ob es so war wie für meinen Hund Poll.«
»Ob was so war wie bei deinem Hund Poll?«
»Als er getötet wurde«, sagte er. »Es war eine Hündin, und sie wurde von einem scheißgroßen, wahnsinnigen Bluthund getötet, unten am Flussufer. Der war hinter was her, und sie kam ihm in die Quere, und er schnappte nach ihrem Kopf, nahm den ganzen Kopf in sein Maul, ein riesiges Maul, voller Geifer, und er packte, einfach so, ihren ganzen Kopf, und schleuderte sie über die Schulter nach hinten, und knacks! war das Genick gebrochen. Und sie war hin.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Es klingt viel schlimmer, als was mir passiert ist.«
Ich zündete meine Pfeife wieder an, nahm einen Zug und reichte sie ihm über den Kopf hinweg. »Aber trotzdem, ich glaube nicht, dass sie viel gelitten hat«, fuhr ich fort. »Jedenfalls nicht lange.«
Ich hörte ihn pusten, als er Rauchkringel zu blasen versuchte. »Ich hab immer zu ihr gesagt: Hierher, Polly! Hierher!« Er hatte den Mund voll Rauch.
Das brachte uns auf Jamrach und meine Arbeit bei ihm im Hof und auf die vielen Tiere, die dort all die Jahre gekommen und gegangen waren. Und was ihn dann richtig aufregte, war die Sache mit dem stummen Vogelraum. Ich erzählte, wie sie da regungslos in diesen winzigen Kästen hockten, Singvögel mit verschlossenen Kehlen, und er sagte, das sei alles ganz verkehrt. Vögel in Käfigen, das sei etwas ganz Furchtbares. »Es hat irgendwas mit den Flügeln zu tun«, meinte er, »sie singen nicht, wenn sie die nicht ausbreiten können.«
Wir rauchten schweigend, und ich musste daran denken, wie traurig mich dieser Raum als Kind gemacht hatte. Aber mit den Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, er wurde zu etwas Normalem. So war die Welt eben.
»Die bleiben da nicht für immer«, sagte ich. »Sie werden weiterverkauft.«
Skip erzählte von einem Fisch, den seine Großmutter besaß. Er habe große Angst vor seiner Großmutter gehabt. Sie sei sehr alt gewesen und sehr hässlich mit ihrer grausigen braunen Lederhaut und den tiefen Runzeln und einer Brille mit dicken Gläsern. Das eine Glas sei abgedeckt gewesen und durch das dicke andere habe ihr Auge so groß und verschwommen ausgesehen wie ein fetter Fisch und angeschaut habe es einen so seltsam, dass man dachte, sie sei eine Hexe. Und die besaß also diesen armen Fisch, einen großen Goldfisch mit einem lebhaften Schwanz, und sie hielt ihn in einem kleinen Glas, so einem, wie man sie bei einem Furunkel auf die Haut setzt. Er lebte in diesem bisschen Wasser, in dem er seinen
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