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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Backbordseite auf. Das Schiff fuhr in großer Entfernung an uns vorbei ins offene Meer hinaus. Das Land rückte dichter heran. Die See war unruhig, und es gab Sandbänke, aber wir machten keine falschen Manöver und hatten am späten Nachmittag das schmalste Stück der Passage hinter uns und den östlichen Kanal erreicht, dort, wo eine Insel das offene Meer teilte.
    Wir landeten in einem Binnenmeer aus Inseln, manche kaum mehr als ein Felsen. Die Sonne ging unter. Über dem Horizont lag regungslos ein dicker Wolkenwald, der hier und da flockige Kumulusexplosionen ausspie. Flache, lange Wellen kräuselten das Wasser, und hinter den Wolken spreizte die Sonne ihre orangefarbenen Strahlen wie eine Blume ihre Blütenblätter. Dann versank sie, und alles war rot, dunkel blutrot, und das Meer schwarz.
    Der nächste Tag bescherte uns eine langgestreckte blaue Küste. Für eine ganze Weile hatten wir nur gute Segelbedingungen, und eine Art Frieden legte sich über das Schiff. Mir schien, dass wir märchenhafte Gegenden erreicht hatten, jene Sirenenorte, wo Meerjungfrauen singen und Lotusesser schlemmen, wo Sindbad der Seefahrer an Deck auf und ab marschiert und von kristallenen Wasserläufen und Höhlen voller Rubine träumt. Ich dachte an Inseln, die kommen und gehen, gefunden werden oder nicht. Endlose Tage vergingen, und ich verfiel in eine anhaltende Seligkeit. Hin und wieder fingen wir einen Wal. Für eine Weile steckten wir dann tief in verbranntem Fleisch und kochendem Tran, doch wir segelten weiter, heraus aus dem Gestank und hinein in weinsüße Luft, die, kräftig eingeatmet, nach Äpfeln, Gewürzen und Blumen schmeckte. Vor einer Insel mit weißem Sand und Kokospalmen schloss sich uns eine Herde Delfine an, ritt für ein oder zwei Meilen vergnügt auf unserer
Bugwelle, stieß mit glänzenden schwarzen Rücken durch die Wasseroberfläche. Die Tiere verließen uns und nahmen die Stille mit sich. Danach frischte der Wind auf eine lustig pfeifende Weise auf, und vor einem gebirgigen Küstenstreifen steuerbords wuchsen die Wellen, brachen sich an einem endlos weiten schimmernden Gestade, das an einen dichten grünen Dschungel grenzte. Von dort wehte in den Ruhepausen zwischen den Böen schwach, aber doch vernehmlich das Geräusch einer Trommel herüber. Langsam und nachdenklich, wie eine einzelne Stimme, die ihre Reichweite erkundet, schien das Trommeln im Einklang mit allem anderen zu sein. Ich hatte Angst vor diesem Getrommel – der Stimme des Dschungels, die in der dünner werdenden Luft Nebel ankündigte.
    Die Delfine riefen den Wind, und der rief die Trommel, und sie rief den Nebel. So kam es mir vor.
    So kam es mir ganz oft vor. Als würde ein Ding zum anderen führen, wie die Töne in einer Melodie.
    Der Wind schlief völlig ein, und sturzflutartig kam der Regen, so plötzlich wie aus einem umgekippten Eimer. Donner grollte am äußersten Himmelsrand, wie ein alter Hund, der im Schlaf knurrt. Ich kletterte vom Mast. Es wetterleuchtete über dem Dschungel. Die ganze Welt war grau, sie hob und senkte sich, wir machten die Schotten dicht und ritten auf ihr. Drei Stunden oder länger prasselte der Regen herunter, aber das Gewitter war nie direkt über uns. Es war auf der anderen Seite der langen Landmasse. Wenn es blitzte, sah es herrlich aus, silberne Reflexe auf einer verwaschenen Welt, auf Mast und Spiere und Kompasshaus, auf dem großen ausgebreiteten Tuch des Meeres.
    Es wurde schon Abend, als der wahnwitzige Regen in normalen überging. Weit draußen in der Bucht einer Insel, die wir vielleicht schon kannten oder auch nicht, drehten wir bei. Wilson Pride hatte einen prächtigen Eintopf aus Speck und Bohnen
mit Klößen gekocht, und wir aßen unten im trockenen Logis. Ich hatte Backbordwache, und es regnete immer noch, als ich mich schlafen legte, aber als ich morgens die Augen aufschlug, war das Tageslicht, das durch die Ritzen im Holz drang, heiß und hell. An Deck war alles von der Sonne aufgeleckt, kein feuchtes Fleckchen mehr zu sehen. Kapitän Proctor unterhielt sich mit dem ersten Offizier im hinteren Niedergang. Mr Rainey schien sich über irgendetwas zu erregen. Sein dunkelrot angelaufenes Gesicht deutete auf einen Streit hin, aber Kapitän Proctor gnickerte irgendwie leutselig und amüsiert. Er sagte etwas, worauf Rainey sich abrupt umdrehte und entfernte.
    Gabriel meinte später, es sei um ein Fangboot gegangen. Wir hatten keine Reserveboote, und Rainey wollte so bald wie möglich irgendwo anlegen

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