Der Atem der Welt
sagte Bill.
Gabriel ließ die langen Beine über den Rand seiner Koje baumeln, die braune Haut war am Schienbein, wo er sich immer kratzte, gelb. Er wandte den Blick ab, und seine große Unterlippe sackte herunter, rosa von innen. »Ich hab mal was Schreckliches gesehen, das hat mir zu denken gegeben«, sagte er. »Ich sah, wie eine Schlange einen Hund fraß. Einen kleinen Hund, ob es ein Welpe war oder nicht, konnte ich nicht sagen. Sie schluckte das arme Ding im Ganzen hinunter, aber es dauerte sehr lange, und der Kopf verschwand als Letztes. Und das arme Ding schrie am Anfang laut, aber am Ende hatte es aufgegeben und war wie jemand, der stumm weint.«
Wir schwiegen alle. Er blickte mit großen Augen in die Runde.
»Versteht ihr? Wie jemand, der weint, aber kein Geräusch dabei macht. Hat gezittert, die Augen fest zugekniffen, die Schnauze verzogen. Diesen armen Hund hab ich nicht vergessen.«
Wieder Schweigen.
»Wieso bist du nicht dazwischengegangen?« John Copper klang verärgert.
»John«, sagte Gabriel, »rat mal, wieso. Aus Angst vor der Schlange natürlich. Das war ein Monster. Sie hatte sich um den armen Hund geringelt und hielt ihn so fest, was konnten wir da schon machen?«
»Wo war das?«, fragte Tim.
Gabriel dachte einen Augenblick nach. »Auf einer Insel. Nicht hier. Weiter weg, in der Südsee.«
Ich fand, die Südsee begann nach einem sehr schlimmen Ort zu klingen.
»Du hättest doch eingreifen können«, beharrte John, »du hättest was machen können.«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Nein. Wir waren zu dritt, und einer war Lovelace, unser Kapitän, und der sagte, wir sollten uns nicht einmischen. Und Lovelace hat man gehorcht.«
»Wenn ich jemals Kapitän Lovelace begegne«, sagte John, »schlag ich ihm die Fresse ein«.
»Wie lang hat es gedauert?«, fragte ich.
»Zu lange.«
»Wie lange?«
»Ach, viel zu lang, kleiner Jaff.«
Ich ließ mich nur ungern bevormunden.
»Hunde weinen nicht«, sagte Billy Stock.
»Doch, und ob!«, sagte Skip sehr schnell.
»Dauerte vielleicht fünf Minuten«, sagte Gabriel.
»Und ihr habt einfach dabeigestanden und zugeschaut?«
»Ja. Lovelace wollte es unbedingt sehen. Wir mussten uns ganz still verhalten und nichts sagen. Es war seltsam. Wir fühlten uns alle seltsam. Hab ich nicht vergessen.«
John Copper fing an zu weinen. Er war wütend. Legte sich hin und drosch auf seine Matratze ein. »Ich hasse das«, sagte er.
»Was, mein Sohn?«
»Ich weiß nicht. Ich hasse es einfach.«
Wir hatten so viele Inseln gesehen, manche kaum größer als ein Felsen, andere, die über Meilen dahinmäanderten, mit Bergen, dicht an dicht, und Mangroven, die übers Wasser zu wandeln schienen und ihre Wurzelglieder so anmutig wegspreizten wie Damen den kleinen Finger beim Teetrinken. Kokospalmen, blauer Himmel, Wattewolken, blassgrüne Felsen, kahle Höhen, üppige Niederungen, und weiter segelten wir. Vier- oder fünfmal landeten wir an einer Insel. Wir luden Bananen und große grüne Früchte. Die zwei Malaien und Dan unterhielten sich in ihrem komischen Kauderwelsch, und wir gingen auf die Jagd, hielten uns aber nur in Strandnähe auf, während Dan, Tim und die Malaien das, was eigentlich Spaß brachte, taten. Nach einem festen Plan arbeiteten sie sich durch schmale grüne Lücken ins Inselinnere, vorneweg die Malaien, die den Boden untersuchten, als enthielte er Gold. Stunden später tauchten sie dann wieder aus dem Wald auf, vielleicht mit ein oder zwei wilden Schweinen, und einmal auch mit den noch dampfenden Fleischstücken eines Büffels, den sie auf der Hochebene gehäutet und zerlegt hatten.
Aber keine Drachen.
Nicht einmal ein einziger winzig kleiner Drache, nicht die geringste Spur, keinerlei Fußabdruck auf all den wilden Sandflächen, keinerlei Hinweis auf ein solches Wesen in der üppigen Vegetation. Kein unheimliches, außerirdisches Rufen in der Nacht.
Wir redeten alle so, als gäbe es das Ding nicht. Aber manchmal dachte ich vorm Einschlafen an das Untier und fragte mich, wieso ich den Gedanken daran nicht loswurde und wieso es mittlerweile mit seinen schuppigen Schwingen, die mit jedem Tag teuflischer wurden, ständig irgendwie über mir schwebte. Und plötzlich bekam ich, in jener Nacht, der Nacht davor, große
Angst. Diese Malaien, sie wissen etwas. Sie haben doch gestern Morgen ein Boot genommen, sich dann kaum eine Stunde lang am Ufer und am Waldrand herumgetrieben, und als sie zurückkommen, sind sie verändert. Alle merken wir
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