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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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es, aber keiner spricht es aus: Dies ist die Insel. Weder groß noch klein, felsig, grün, hohe Berge, die mit struppigem Gehölz über dem Dschungel und den zugewachsenen Buchten in den Himmel ragen. Der Seegang hier ist heftig und rau, als wollte die Insel nicht betreten werden, und das jagt mir Angst ein. In meinem Kopf höre ich die Gongschläge von Sumba, während ich grübelnd daliege. Seit wir diesen Ort verlassen haben, erklingen sie in meinem Kopf, ich höre ihr leises, schläfriges Gewummer, das lange Tonschnüre in die Dunkelheit schickt, die kaum schwingen, sich aber auf irgendeine schimmernde Weise ständig verändern, schlicht wie Seide. Die Musik ist wie eine Schlange, die ihren Schwanz verschlingt, ein Wiegenlied, das sich ständig wiederholt und, wie eine Droge, die Sinne gleichzeitig schärft und einlullt. Mein Mund ist trocken vor Angst, meine Kehle zieht sich zusammen, wenn ich schlucken will, und ich falle in eine tiefe Düsternis, die fast wie eine plötzliche Übelkeit ist.
    Ich musste immerzu an den armen Hund denken, der lebendig von der Schlange gefressen wurde und selbst miterlebte, was ihm widerfuhr. Ich sah immerzu seine stumm weinende Schnauze vor mir, die zerquetscht und verschlungen wurde, und ich dachte an den Gott, der sich eine solche Todesart ausdenken konnte. Mir wurde kalt, ich war verletzt, und meine Angst wuchs. Und als ich endlich einschlief, hatte ich einen fürchterlichen Albtraum, einen von der Sorte, bei der man schweißnass und mit wild klopfendem Herzen aufwacht, ganz zerschlagen und entsetzt über den Spuk im eigenen Kopf. Auf einem dunklen Dachboden war ein großer Kessel voller Blut, Körperteile bewegten sich darin, schlängelten sich umeinander wie Aale; und mittendrin trieb das vor Entsetzen verzerrte Gesicht eines
Mannes – und es war dieses Entsetzen, das mich weckte –, ein richtiger vollständiger Mann versuchte verzweifelt und ohne die geringste Chance, sich daraus zu befreien. Ein Arm reckte sich aus der Blutsuppe, und eine blutverschmierte Hand spreizte sich und tauchte das Gesicht des Mannes unter, und ich wachte im knarzenden Logis auf und war nicht sicher, ob ich geschrien hatte oder nicht. Aber nein, anscheinend nicht.
    Mir war heiß. Diese schmutzige Hitze, die einfach nicht aufhörte. Gott, wie ich zitterte. Seit damals, als Tim mich im Dunkeln in Jamrachs Laden einsperrte, hatte mir nichts mehr eine solche Angst eingejagt. Da lag er, mir gegenüber, und schlief den Schlaf der Seligen. Mistkerl, mir das anzutun. Ein zweischneidiges Schwert, das ist er, unser Tim. Sie hätten sehen sollen, wie wichtig er mit Dan und den Malaien losgezogen ist. Kommt zurück mit Federn hinter den Ohren und einem Band um den Kopf. Und überhaupt, wenn Sie ihn in letzter Zeit gesehen hätten, unseren Tim. Wunderschön ist er. Braun wie ein Eingeborener und dazu seine Augen, klar und babyblau, und seine Haare von goldenem Blond. Kommt aus dem Dschungel stolziert wie ein schmuddeliger, verschwitzter Apollo, einen Kopf größer inzwischen als Dan, der weise alte Affe, an dessen Seite er geht. Sagt nicht viel. Reibt sich das Gesicht, grinst mich an. Büffelblut unter den Nägeln. »Mein Gott«, sagt er, »ich könnte eine Woche lang schlafen.«
    Wie kann er so selig schlafen, während ich wach bin? Natürlich braucht er seinen Schlaf bei dem, was er zu tun hat.
    »Tim«, flüsterte ich.
    »Was ist?«, antwortete er sofort. Er schlief gar nicht.
    »Bist du wach?«
    »Nein.«
    »Ich hatte einen furchtbaren Traum.«
    »Mach dir nichts draus, Jaff«, sagte er, »es ist nur ein Traum. Nur in deinem Kopf.«
    Darüber dachte ich einen Augenblick nach. Ich hatte das Gefühl, etwas sei in mich eingedrungen. »Wie kommt so etwas in meinen Kopf?«, fragte ich, als handelte es sich um einen Wurm, der durch mein Ohr gekrochen war.
    »Was meinst du mit ›so etwas‹?«
    Wir flüsterten, um die anderen nicht zu wecken, die um uns herum leise schnarchten.
    »Ich glaube nicht, dass ich jetzt darüber sprechen möchte«, antwortete ich nach einer Weile. »In der Nacht und überhaupt. Vielleicht morgen.«
    »Wie du meinst.« Er gähnte herzhaft.
    » Manche Träume . . .«, sagte ich wieder nach einer Weile.
    »Ich weiß.«
    Wir trieben in verschiedene Richtungen.
    »Ich habe Angst, Tim«, sagte ich.
    Pause. Er wusste, dass ich nicht nur meinen Traum meinte. 
    »Ich auch«, sagte er, streckte den Arm aus und kniff mir kurz in die Schulter. »Dummer alter Jaff.« Er gab mir einen

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