Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
die Winde würden schwächer werden und nach Westen drehen, dann zurück nach Südwesten und über Neufundland wieder auffrischen. Beim Anflug auf New York würden wir dann kräftigen Westwind haben. Die Turbulenz würde minimal sein, Stürme waren keine gemeldet.
Die genaue Route von BA 113 war schon von der Air-Traffic-Control-Zentrale und den Verantwortlichen der Fluggesellschaft festgelegt worden. Im Allgemeinen werden jeden Tag zehn Routen ausgearbeitet, fünf in Richtung Westen und fünf in Richtung Osten, die sich von den Küsten Europas und Nordamerikas aus über die ganze Breite des Ozeans ziehen und alle paar Stunden leicht nach Norden und Süden verlagert werden, je nach dem genauen Verlauf des Jetstream . Diese Routen machen es möglich, dass eine große Zahl von Flugzeugen in sicherem Abstand zueinander unterwegs ist.
Die nach Westen führenden sind als A, B, C, D und E gekennzeichnet, die nach Osten führenden als V, W, X, Y und Z. Die schätzungsweise sechshundert Maschinen, die sich jeden Tag nach Westen aufmachen – und von denen die Maschine, in der ich saß, eine war –, tun dies in »geraden« Höhen, um jeweils zweitausend Fuß voneinander getrennt, also in 40000 Fuß, 38000 Fuß, 36000 Fuß und so weiter. Die Maschinen mit Kurs nach Osten fliegen hingegen in »ungeraden« Höhen: von 39000 Fuß bis zu 31000 hinunter. An diesem besonderen Tag hatten die Piloten meines Flugs Anweisung erhalten, auf Track NAT Charlie zu fliegen und sich auf Flugfläche 380 zu halten. Mit den Vorbereitungen zum Eintritt in den kritischen transozeanischen Sektor würden sie bei einem, natürlich unsichtbaren, Wegpunkt beginnen, dem die Leute, die die Flugkarten für den atlantischen Raum angelegt hatten, den unschönen Namen BURAK gegeben hatten. Der tatsächliche Eintritt in diesen Sektor würde bei einem zweiten, als MALOT bezeichneten Wegpunkt erfolgen: An dieser Stelle würde die Maschine in den riskantesten Abschnitt des gesamten Flugs eintreten.
Die beiden Kontrollzentren, die den Luftraum über dem Ozean in großen Höhen überwachen, befinden sich in Prestwick in Schottland sowie in Gander auf Neufundland. Bei dem ersten, das den offiziellen Namen Shanwick Oceanic Control Centre trägt, handelt es sich um einen gewaltigen Gebäudekomplex – passenderweise als Atlantic House bekannt –, der südlich der Hauptrollbahn von Prestwick Airport liegt. Von dort aus lassen sich mithilfe einer äußerst starken Kurzwellenstation, die sich weit weg in dem Dörfchen Ballygirreen in Südwestirland befindet, alle Maschinen dirigieren, die sich den Britischen Inseln nähern oder sich von ihnen entfernen, und zwar solange sie in einem Raum unterwegs sind, der sich von den Gewässern um Island im Norden bis zur Biskaya im Süden erstreckt und im Norden von einer Linie begrenzt ist, die den Ozean bei dreißig Grad westlicher Länge, also quasi in seiner Mitte, schneidet.
In Shanwick geht es für gewöhnlich sehr geschäftig und konzentriert zu. Doch im späten Frühjahr 2010 senkte sich zeitweise eine bizarre und unheimliche Stille über den Hauptkontrollraum . In großen Höhen waren Wolken vulkanischen Aschestaubs entdeckt worden, die sich von Island aus über Nordeuropa ausbreiteten, und die vorsichtigen Bürokraten in Brüssel entschlossen sich, die meisten innereuropäischen Flüge annullieren und auch nahezu den gesamten Flugverkehr über den Nordatlantik einstellen zu lassen. Diese heftig kritisierte Entscheidung führte dazu, dass überall auf der Welt Millionen Passagiere festsaßen und die Fluglotsen in Shanwick kaum etwas zu tun hatten.
Shanwicks Entsprechung auf der anderen Seite des Atlantiks ist Gander Oceanic Control auf Neufundland, bei Weitem die geschäftigste Einrichtung dieser Art auf der Welt – die Mitarbeiter dort überwachten 2007 nicht weniger als 414000 Atlantiküberflüge –, die für den gesamten Luftverkehr über hoher See zuständig ist, noch über die erwähnte Linie bei dreißig Grad westlicher Länge hinaus. Während das Kontrollzentrum von Prestwick Airport in einem schmucken schottischen Vorort steht, nimmt das von Gander eine Reihe niedriger, unschöner Bauten in der Nähe eines einsamen ehemaligen Militärflugfelds inmitten der Fichtenwälder und Sümpfe Nordostneufundlands ein. Es ist ein extrem abgelegener Ort, was aber zur Folge hat, dass Gander permanent, rund um die Uhr geöffnet ist. Es sind keinerlei Nachtflugverbote verhängt, um den Lärm zu reduzieren, keine anderen
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